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Das Wappen der Familie Khammas

Mein Netzeinstieg

Was passierte, als ich mich ins Datennetz begeben habe - ein Artikel, der eigentlich für ein SPIEGEL-Special geschrieben wurde, dort aber leider nicht abgedruckt wurde.


SPIEGEL-Special

Thema: "Schicksal Computer - Pannen, Erlebnisse, Erleuchtungen"


Kaum war der Berliner Einwahlknoten eingerichtet, da hatte ich schon meinen eigenen Compuserve-Account und begann, Wetterkarten abzurufen, mit wildfremden Menschen am Bildschirm zu korrespondieren, Texte downzuloaden und eine Vielzahl von Foren zu durchstreifen. Zuvor hatte ich die hohen Telefonkosten gescheut, die eine weiter entfernte Verbindung mit sich gebracht hätte; doch mit dem Lokaltarif war das nun ja kein Thema mehr. Das schweigende Mitlesen (lurken) von Nachrichten, Meldungen und Messages in den deutschsprachigen Foren machte mir klar, daß sich hier eine besonders kommunikative, wenn nicht gar austauschbesessene Elite tummelt. Dies steigerte wiederum meine Neugier auf die englischsprachigen Foren, welche von den rund 2,5 Millionen Mitgliedern überall auf dem Planeten frequentiert werden.

Mein Englisch hatte sich in den langen Jahren seiner Nichtbenutzung zwar nicht gänzlich verflüchtigt, aber ohne ein gewisses kleines blaues Büchlein kam ich nicht weiter. Um so erfreuter stellte ich nach knapp drei Wochen fest, daß sich auf besagtem Büchlein langsam wieder der Staub zu sammeln begann!  Dieses Argument überzeugte dann auch meine Frau, die sich über die Compuserve-Rechnung aufgeregt hatte: Einen günstigeren Englisch-Auffrischungskurs - noch dazu, ohne hierfür die Wohnung verlassen zu müssen - konnte auch sie nicht finden... <g>

Etwa zwei Monate nach meinem Einstieg in die Welt der Computernetze bekam ich das überraschende Angebot, als eherenamtlicher Sektions-Sysop im GERWIN-Forum mitzuwirken - was man mit einigem Humor als die erste Sproße auf der digitalen Leiter in den Himmel der Wizops betrachten kann. War das eine Panne seitens der Planer? Doch nach einiger Zeit voll lehrreicher Mißverständnisse, freudscher Fehlleistungen und anderer Aha-Erlebnisse (wie z.B. im Spiegel-Forum der Thread 'Nazis ins Stadion') merkte ich, daß auch die erfolgreiche Betreuung einer Sektion, eines virtuellen Salons oder Debattierclubs - also der Raststelle am Daten-Highway -, letztendlich eine Frage der Moderation ist,  ...und von da an ging's berauf.

Ein Argument zugunsten der höheren Wertschätzung digitaler Kommunikation ist in meinen Augen, daß sich in den Foren eine Renaissance der "guten alten" Briefkultur abspielt, kaum daß ihr endgültiges Verschwinden von kulturpessimistischer Seite beklagt worden war. Nicht nur das, die elektronische Briefkultur ist in ihrer öffentlichen Form sogar vielfältiger, variantenreicher und nützlicher als je zuvor. Aber jene trauernden oder ängstlich-warnenden Kritiker sind wohl kaum 'online', wie schade! Gerade sie könnten hier noch einiges dazulernen. ;-)

Zum Beispiel, daß es nach der hundertsten oder tausendsten Message ausgesprochen langweilig wird, jede davon mit den stets gleichen stereotypischen Formeln zu beenden. Es war ein erleuchtendes Gefühl, daraufhin eine stilbildende Funktion zu entwickeln.

Einschübe, zumeist durch < ... > gekennzeichnet und oftmals nur Abkürzungen enthaltend, werden schon länger genutzt um Befindlichkeiten auszudrücken (<g> = grin, <rofl> = rolling on floor laughing, usw.). Nun fing ich jedoch an, statt dem trockenen "Gruß" wenigsten ein <G>russ zu machen... woraus plötzlich  - und wie von alleine -  kleine 'verbale' Bildchen entstanden. Ging es z.B. um ein Hardwareproblem, so endete die Nachricht möglicherweise mit einem

<verzweifelt die letzte Schraube suchend>
Achmed

Innerhalb weniger Tage wurde die Idee seitens der 'Netzgemeinde' aufgegriffen und nun verabschiedeten sich mehr und mehr Personen mit einem <gierig auf eintreffende msg's blick>, oder (um 03:14 früh!) <sich die Streichhölzer zwischen den Augenlidern entfernend>. Andere bevorzugten ein <sich in die Schutzhütte zurückziehend>, <im Kalender blätternd>, <vor die Tür gehend, fegend>, <vor lynchbereiten Katzenfans flüchtend>, <aus dem Lorbeerhaufen herauskrabbelnd>, <lässig mit dem Bambusstock wedelnd> oder - vielversprechend für einen erwarteten Wochenendgast - ein <neue Reservekissen ausstopfend>, um sich zu verabschieden.

Nebenbei gesagt: Es sind viele nette, hilfsbereite und kompetente Menschen über die neue digitale Kommunikation erreichbar. Sie glauben es nicht? Dann schauen Sie doch mal rein in die virtuellen Blumenläden, Pubs und Cafes, besuchen Sie Sektionen mit Namen wie 'All Talk' und 'Scheibenwischer' - oder setzen Sie sich einfach im GERWIN-Forum gemütlich auf den Datendiwan im digitalen Treffpunkt Achmed's...

Sie werden staunen - genau wir ich gestaunt habe ... und es immernoch tue.

<auf Abdruck hoffend>
Achmed

(1994)


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