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Das Wappen der Familie Khammas

Medienkritische Leseart der SF-Kurzgeschichte 'Der Wettbewerb'

Dieser Artikel erschienen in 'SOG - Konvergenz und Peripherie der Systeme', Hrsg. von Reiner Matzker.

Es ist schon lustig, wenn man so 'distanziert' über die Elaborate des eigenen Pseudonyms schreiben kann - und keiner weiß es ;-))


Eine medienkritische Leseart der syrischen SF-Kurzgeschichte 'DER WETTBEWERB' von Ghassan Homsi

von Achmed A. W. Khammas


Vorspann:

"Man könnte in der Photographie auch eine moderne Version des Dracula-Mythos erblicken. De Photographie würde sich demnach insgeheim von der Substanz derjenigen ernähren, deren Narzißmus sie befriedigen soll. Die Photo-Aufnahme = -Bild-Entnahme wäre (im Sinne von Blut-Entnahme) 'Lebens-Ent-nahme'." (1)


Eine alte arabische Überlieferung besagt, daß in der Zeit vor dem Jüngsten Gericht der ''Einäugige Lügner" über die Menschheit herrschen wird. Kaum eine Großmutter, die nicht ihren Enkeln beschwörend und mit den buntesten Ausschmückungen versehen von jenem 'Herrn über spannengroße Menschen' berichtet hätte, welcher in den letzten Tagen dereinst das Sagen haben wird.

Seit dem Siegeszug des Fernsehens, des "Mediums aller Medien" (Werbetext), habe ich eine gewisse Ahnung, was diese Vorausschau wohl gemeint haben könnte. Zu den Fakten gehört immerhin, daß fast jedes Land der Erde seinem Volk täglich mindestens sechs Stunden TV bietet; bald schon werden Satelliten für den weltweiten 24-Stunden-Empfang sorgen. Das planetenumspannede Netz steht also kurz vor seiner Vollendung.

Doch die Vernetzung ist einseitig. Auf Millionen Empfänger kommen nur wenige Sender. Was „GLOBO" sagt, das denkt die Welt. Sublime Manipulation kann man es wirklich nicht mehr nennen, das, was einem aus dem Bildschirm ins Auge springt.

Es mag wohl kritisiert werden, wenn jemand über die Weltmacht TV schreibt, der jedoch selbst (wie ich) gar nicht im Besitze eines derartigen Gerätes ist. Andererseits kann gerade diese Distanz gewissermaßen auch einen erweiterten Blickwinkel schaffen, und aus eben diesem heraus soll hier die SF-Kurzgeschichte "Der Wettbewerb" betrachtet werden. Es geht also in erster Linie nicht darum, das Medium an sich zu zerpflücken, denn dieses ist wohl schon in ausreichendem Maße und in genügender Breite erfolgt. Wir wollen nicht über McLuhan reden und nicht über die stets gescheiterten Versu-che, fernsehfreie Tage einzuführen (2). Auch soll hier die gesundheitliche Seite ausgeklammert blei-ben, ebenso wie die Erfolgsstatistiken der Wirtschaftsunternehmen. Über alles das existieren Berge an Sekundärliteratur.

Die Machtfrage jedoch, sie kann nicht ausgeklammert werden. Denn ebenso wie die Energie ist sie zentral, zu grundlegend, zu absolut und sozusagen Kern des Ganzen. Ist der Strom weg, gibt es keine elektronischen Medien. Gibt es diese aber, dann stellt sich sofort die Frage: ... und wer macht das Programm? Immerhin ist das Mediennetz heute genauso unüberschaubar geworden wie die internationale Kapitalverflechtung. Die Kanäle beherrschen die Gehirne der Massen. Wer aber herrscht über die Kanäle?

Die Antwort erregt nur selten Wohlgefallen; denn alle Analysen, Untersuchungen und Studien weisen letztlich darauf hin, daß unter dem vagen Oberbegriff "Fernsehbosse" weniger konkret faßbare Individuen fungieren, als daß dieser Begriff eher für ein Konglomerat an politischen, wirtschaftlichen und sogar religiösen Interessen bzw. Interes-sengruppen steht, also für etwas, das in Wirklichkeit kaum greifbar und auch nur schwer begreifbar ist.

Unzweifelhaft hat die Mattscheibe global ge-siegt. Hat doch heute schon manch ein Kral zwar (immer noch) kein fließendes Wasser, geschweige denn ein Bad oder gar ein Klo, dafür aber eine Antenne samt batterie- bzw. solarbetriebenem TV. Ein Hoch für die Alternativenergie, dies möglich macht! Und so sind H'madou nebst seinem Familienclan zu Weltbürgern im Weltnetz geworden, sehen die Restaurierungsfeierlichkeiten um die Freiheitsstatue oder die jüngste Öko-Katastrophe und brauchen im Grunde gar nicht mehr alphabetisiert zu werden. Wozu auch? Sie haben nun - wie Milliarden andere Menschen in der 3. Welt - die Möglichkeit, diesen lästigen Schritt einfach zu überspringen. Und mit Lichtgeschwindigkeit geht es hinein ins neue Zeitalter.

Die Weltsynthese? Ja. Aber nach welchem Rezept bitte? Ist doch derweil sogar schon die Glaubens-frage dem Fernsehen übergeben worden, steht Geflimmer für Wahrheit und ein rasender Lichtpunkt für Illumination ...!

Totale:

Der Globus, unser Raumschiff Erde. Aus dem All aufgenommen. DIE Chance.

Focus und Zoom:

Die Manipulation beginnt.

Betrachten wir unsere Kurzgeschichte deshalb zuerst einmal aus der Totalen.

Unsere Welt, Menschen, Leben und der ganze Rest. Als es passiert, ist niemand darauf vorbe-reitet. Wer hätte nach über 5000 Jahren, nach knapp 2000 Jahren oder auch nur gut 1400 Jahren noch geglaubt, daß es tatsächlich eintreffen würde? Kaum jemand. Und so erscheint der Erlöser wie der Dieb in der Nacht, und als die Alarmanlagen endlich wieder schweigen, weiß niemand, wie er sich in der ganzen Affäre weiter verhalten soll. (3)

Der "Dieb" hat, statt zu klauen, etwas mitgebracht. Und dieses Etwas wirft ausreichend Probleme auf, um vom Täter selbst erst einmal abzulenken. In der Story wird nicht auf die einzelnen Details eingegangen. Dafür zeigt der Autor sehr schnell, daß jenes oben bereits erwähnte Konglomerat gar nicht anders als sozusagen 'artenspezifisch' reagieren kann. Von der FROHEN BOTSCHAFT bleibt höchstens eine Nachricht; denn während der originale Erlöser kaum jemandem behagt - er könnte ja womöglich die gerade so schön gefestigten Strukturen auflösen wollen - , ist sein Mitbringsel um so begehrter: eine "ökologische Maschine", die schlagartig alle Umwelt- und Energieprobleme auf der Erde lösen könnte. Es gilt also, das Objekt von seinem Subjekt zu trennen. Aber wie?

An dieser Stelle beginnt denn auch die eigentliche Handlung. Man hat der Einmaligkeit durch Vervielfältigung contra gegeben und schiebt der Zuschauermasse die letzte Wahl zu. Und so wetteifern plötzlich Hunderte von Messiassen um die Gunst des Publikums, live und global gesendet:

"Die Medienbosse hatten ganze Arbeit geleistet. Die Milliarden saßen von Flimmerkistenbildern bezaubert in ihren Palästen, Häusern, Zimmern, Buden, Baracken, in Kinosälen und Stadien, wo mit TV-Beam und riesigen Leinwänden gearbeitet wurde. In aller Herren Länder, überall auf dem Planeten. Das weltumspannende McLuhan'sche elektrische Nervensystem aus Kabelsträngen und Funkwellen vibrierte hektisch - und auf allen Bildschirmen war ein sich schneller und schneller drehender Wasserwirbel zu sehen, der dem Beobachter gleichsam entgegenkam, nur um dann mit einem großen Tusch zu dem Gesicht des Ansagers und Conferenciers zu zerfallen. Die restlichen Milliarden, jene, die außerhalb dieses planetarischen Netzwerkes geradezu dahinvege-tierten, waren in diesen schicksalhaften Minuten und Stunden zu reinen Fleischklumpen, zu Protoplasma ohne (elektronisch erleuchtetes) Bewußtsein reduziert und degradiert. Die Macher aber, die Beweger und auch die Verzehrer, sie alle sahen zu, waren Nerven, Ganglien, Befehlsübermittler und Entscheidungsträger. Auf ihren Feed-Back-Impuls würde es letztlich ankommen, um ein für allemal festzustellen, wer aus diesen Hundertschaften miteinander konkurrierender Maschinen-Messiasse jetzt und für alle Zeit als der wiedererschienene Erlöser gefeiert werden würde, wer auf Lebenszeit den extra dafür neu erschaffenen (und von allen Weltreligionen gemeinsam finanzierten) Platz des ersten Ehrenvorsitzenden der UNO übernehmen würde, und wer - was nicht das Unwichtigste ist - die wahren Berge von Werbegeschenken einheimsen würde, welche seitens Abertausender von Firmen für diese globale Medienwallfahrt, für dieses jüngste TV-Gericht spendiert worden waren." (Der Wettbewerb, S. 336)

Die Kurzgeschichte behandelt die Medienweltmacht an sich nur indirekt, eine eindeutige Kritik erfolgt nicht. Selbst ER ist bereit, am Wettbewerb teilzunehmen und gibt dort - sogar aus der Sicht seines treuesten Jüngers - nicht einmal eine besondere Figur ab. Doch das dicke Ende bleibt nicht aus. Ebenso global wie die Vermarktung erfolgt nämlich auch der Zusammenbruch des schnöden Kartenhauses aus bunten Flackerbildchen und zweifelhaften Kommentaren.

Danach ist die Welt wie neuerschaffen, fernseh-frei! Und das geht so:

Focus:

Auf die Völker der 3. Welt wirkt sich das Fernsehen mindestens ebenso schlecht aus wie auf die Be-wohner der entwickelten Länder. Nur hatten letztere viel mehr Zeit gehabt, sich psychologisch und gesellschaftlich dem neuen Medium anzupassen. Vielleicht steigt die Kriminalität tatsächlich durch mehr Gewalt auf dem Bildschirm. Doch wie wirken Szenen von Schweizer Bergseen auf durstige Sahara-Bewohner? Und wie die ununterbrochene Vielfalt neuer und nie gesehener Produkte auf Leute, die neben ihrem Lebensunterhalt gerade mal ihre Stromrechnung bezahlen können? Wie gut, daß die Röhre eine schwache Betäubung des Hirns bewirkt (4). Was hätte sonst nicht schon alles passieren können!

Ist es also symptomatisch, wenn gerade ein Autor aus der 3. Welt die Utopie einer fernsehfreien Zukunft behandelt? Regt sich hier ein gewisser Widerstand, wenn auch nur in der Phantasie, oder deckt da etwa jemand gar den imperialistischen Hintergrund jener (nur) vorgespie(ge)lten 'perfekten Kommunikation' auf? Es wäre vielleicht zu hoch gegriffen, derartiges zu behauten; die Wirkung wird eher unterschwellig erreicht. Eindeutiger ist da schon die Idee, daß die Aufstellung Hunderter (falscher) Messiasse dem altbekannten "teile und herrsche" entspricht. Nur daß diesmal die neuen Mikro-Einheiten mittels TV-Kanälen geschaffen wer-den, um damit die neuen Fakultäten oder Nationalitäten entstehen zu lassen. Und statt das 'Objekt' selbst ins Scheinwerferlicht zu rücken und die praktische Seite zu betonen, die jeden Menschen viel direkter angeht, wird die Exergie der Auf-merksamkeit in eine Anergie unterschiedlicher Mei-nungen (zu den einzelnen Wettbewerbsteilnehmern) verwandelt, deren einziges gemeinsames Element eben ihre Uneinigkeit ist. Was also zur Debatte gestellt wird, ist fingiert und im Grunde völlig nebensächlich, es soll nur von den wirklich wich-tigen Dingen ablenken. McLuhan sagt dazu "Krieg".

Schwenk:

Die Kurzgeschichte ist satirisch genug, um nicht als Maschinenstürmerei verstanden zu werden - um so mehr, als daß sie einen gewissen realen Hintergrund hat, in dem eine "Erlösungsmaschine" auch tatsächlich vorkommt. Und so ernst, wie ein bekannter deutscher SF-Autor, welcher nach der Lektüre - wohl mit Recht - anmahnte, "daß das goldene Zeitalter nicht anbricht, (...) wenn die elektronischen Medien zum Schweigen gebracht werden", ... so ernst sollte man den "Wettbewerb" bitte nicht nehmen. Der Autor spie1t eher mit seiner Hoffnung, daß vielleicht eine religiöse Instanz der gegebenen - und ganz sicher als bedrohlich weltbeherrschend aufgefaßten - Fernsehallmacht Paroli bieten könnte. Und so löst denn auch der letzte am Wettbewerb teilnehmende (und echte) Messias den gordischen Medienknoten, indem er auf eine, von Physikern möglicherweise als etwas sehr phantasievoll betrachtete Art, einen quasi submolekularen EMP auslöst, der das Mediennetz (und nebenbei noch alle anderen elektronischen und elektrischen Netze) in einen Zustand maximaler Entropie versetzt. Plötzlich gibt es kein Elektronenungleichgewicht mehr, das sich irgendwie handhaben und nutzen ließe. (5)

Zoom:

Zuverlässige Handkuriere übermitteln wichtige Bot-schaften, und Ronald Rippchen, der (fingierte?) Schreiber der stilistisch passend als Brief aufgemachten Kurzgeschichte, hört mit seinem Bericht auf, weil "draußen schon der Hahn kräht und auch das Spanholz rußt".

Schnitt:

Der "Wettbewerb" - vergleichbar einem sich selbst aufhebenden System - bildet gewissermaßen die Hälfte eines Möbius-Bandes. Es ist allerdings schwer festzustellen, welche Hälfte. (6)

Und wer weiß, vielleicht entschließt sich bald eine Rockband in Syrien dazu, den "Wettbewerb" als Video-Clip herauszugeben? Mit dem absoluten Blackout am Ende wäre ein derartiger Clip sicherlich äußerst erfolgreich und hitverdächtig. Und das Möbius-Band wäre dann endlich auch vollständig.

Nachspann:

Der einäugige Lügner klappte nachdenklich das Buch zu. Nach einigen Kontaktaufnahmen war auch die Rockgruppe engagiert, die den Clip machen würde. Als Drehbuch war die Idee nicht schlecht, dachte er. Aber bis ihm endlich ein guter Plot einfiel, war es schon fast Zeit für die allabendlichen Nach-Richten. "Beatband bei Videoaufnahme von Riesenbildschirm-Explosion zerfetzt". Das war es. Beruhigt, seinen Anhängern wieder einmal das tägliche Blut geliefert zu haben, schaltete er um auf den nächsten Kanal.



Ghassan Homsi, Der Wettbewerb, erschienen in: Die Gebeine des Bettrand Russel. Internationale Science Fiction Stories, hrsg. v. Wolfgang Jeschke, München 1984.

Übersetzt von Ahmad M. Al-Khammas



ANMERKUNGEN

(1) Jean Clair, Die letzte Maschine, erschienen in "Junggesel-lenmaschinen", Hrsg. Szeemann, Venedig 1975.
(2) Sogar als Kanzler ist Helmut Schmidt daran gescheitert.
(3) Die Jahreszahlen stehen natürlich hier nur stellvertretend für den Erlösermythos an sich, den es bekanntlich in so gut wie allen Kulturen gibt. Mythos?
(4) Konrad Volz & Gerriet Hellwig, Media & Mind, erschienen in "Zukunftsperspektiven", Hrsg.: Werner Pieper, MedienXperimente, Löhrbach o.J., Der Grüne Zweig 88.
(5) EMP = Elektromagnetischer Puls: (bisher nur) bei Atomwaf-fenexplosionen in großen Höhen auftreffender Effekt, dar auf elektronisches Gerät verheerend wirkt.
(6) Douglas R. Hofstatter, Gödel - Escher - Bach, Stuttgart 1985.


Erschienen in: SOG - Kovergenz und Peripherie der Systeme, Heft Nr. 5, Hrsg. Reiner Matzker, R. Matzker Verlag DiA, Berlin 1987, S. 79 - 87


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