Der Wettbewerb
                              
                              
                              von Ghassan Homsi                              
                              
                              
                              HINWEIS: Bericht nur über zuverlässigen Handkurier weitergeben! 
                              
                              Liebe Schwestern, liebe Brüder, 
                              
                              im nun schon siebten Jahr nach dem uns alle betreffenden
                              tragischen Ereignis erreichen uns hier im Odenwald
                              mehr und mehr Briefe und Nachrichten von und über
                              euch. Erlaubt mir daher, euch zu berichten, was
                              meinen Kenntnissen zufolge damals geschehen ist
                              und wie es uns seitdem erging - denn  allzu
                              oft tauchen diese Fragen in Euren Schreiben auf.
                              Auch wird meistens nach unseren arabischen Freunden
                              gefragt; so werde ich denn mit ihnen beginnen: 
                              
                              Ihr erinnert Euch sicherlich noch daran, daß es
                              Achmed und seine Freunde im Laufe der Jahre und
                              mit viel Mühe geschafft hatten, mit ihrem syrischen Maschinen-Messias bekannt
                              zu werden. Immerhin beschäftigten sich damals bereits
                              das Kanadische Energieministerium und das ‘International
                              Center for Strategic Studies’ ernsthaft mit der ‘Messias-Maschine’, und
                              sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt
                              hatte „herzlich
                              gedankt" für die Übermittlung der Verkündigung
                              aus dem Orient. 
                              
                              So vielversprechend die Lage auch wirkte, gemacht
                              wurde letztendlich nichts - da tauchten auf einmal
                              erschreckend synchron aus den unterschiedlichsten
                              Ecken und Enden der Welt kommende Gerüchte auf,
                              deren Inhalt in allen Fällen identisch war. Ob
                              von den Fidji-lnseln oder vom Bosporus, aus einem
                              Vorort Washingtons oder aus der Mandschurei - allen
                              Gerüchten war gemeinsam, daß dort - wo immer das
                              auch war - ein Mann (unterschiedlichster Rasse
                              und Herkunft) behaupten würde, der langerwartete
                              und langersehnte Messias zu sein. Und daß er eine
                              Maschine hätte, von der er behaupten würde, sie
                              könne uns das Paradies erbauen. Also haargenau
                              dasselbe, was uns unsere Freunde aus Syrien erzählt
                              hatten! Über das Wundermaschinchen selbst ist damals
                              ja viel berichtet worden, so daß sich eine Wiederholung
                              an dieser Stelle erübrigt. Kehren wir lieber zu
                              unseren Freunden und zu dem WETTBEWERB zurück. 
                              
                              Daß alle diese Gerüchte  stark beunruhigend auf
                              sie wirkten, dürfte wohl einem jedem klar sein,
                              der zuvor schon über das „Projekt Messias" gehört
                              hatte. Immerhin hatten Achmed und seine Freunde
                              im Laufe der Zeit viele Arbeitsstunden und auch
                              Geld in ihren Maschinen-Messias investiert, und
                              es gefiel ihnen keineswegs, daß nun eventuell ein
                              anderer das Rennen machen würde. Daß es sich
                              bei den vielen Messiassen bzw. bei ihren so großen
                              Erfolg versprechenden Geräten wohl immer um das
                              gleiche Prinzip handeln würde, dem schon die ‘Muttermaschine’ des
                              syrischen Messias zugrunde lag, ließ sich aus den
                              zum Teil  recht verworrenen und verdrehten
                              Gerüchten trotz alledem leicht entnehmen. Denn
                              irgendwann im Verlaufe der Erzählung begann nämlich
                               der Berichtende (immer!) mit dem Arm eine
                              weitausholende Spirale in die Luft zu zeichnen
                              (manchmal mit offener Hand, mal mit ausgestrecktem
                              Zeigefinger, usw.), welche sich weiter verjüngend
                              langsam nach oben schraubt. Eine klare Darstellung
                              des Wasser-Hinauf-Wirbels, dem Geheimnis im
                              Kern der MASCHINE! 
                              
                              Nun ja. Ihr erinnert Euch sicher auch noch daran,
                              daß es dank einiger interessierter Förderer, die
                              es jetzt, nach dem so tragischen Ausgang des WETTBEWERBS,
                               vorziehen nicht genannt zu werden... dank der
                              UNO, beziehungsweise den Herren, die damals in
                              New York gerade Schicht hatten... dank den Medien,
                              die ein Ende der Saure-Gurken-Zeit witterten (und
                              dafür dann
selbst in eine äußerst saure Gurke beißen mußten)... und dank des Roten Kreuzes,
welches die notwendige Infrastruktur samt hochentwickelten Gulaschkanonen und
mobilen Klosetts zur Verfügung stellte, gelang, alle Messiasse derer man habhaft
werden konnte, auf neutralem Schweizer Grund und Boden zu versammeln. Samt Jüngern,
Familien und/oder Managern. 
In unserem Fall ließ der Maschinen-Messias alle seine Jünger und Familienmitglieder
in Syrien zurück, und nur Achmed flog mit ihm gen Westen. Letzterer war dort
aufgewachsen, kannte sich aus und hatte gute Kontakte. Der Flug ging erst einmal
nach Berlin, wo dem Drill noch etwas nachgeholfen wurde, indem der Messias unter
Achmeds stadtkundiger Führung und der Hilfe einiger unerschrockener Berliner
Freaks hintereinanderweg und ohne nennenswerte Unterbrechungen zuerst in die
Philharmonie (Wagner!), dann in das ‘Sound’, und zuletzt in eine berüchtigte
Punk-Kneipe geschleppt wurde. Um Mitternacht fuhr man nach Ostberlin, um die
24-Stunden Visas voll auszunutzen. Leider wurde die gesamte Truppe kurz darauf
wieder herausgeschmissen, da der Maschinen-Messias mit seinen Bekehrungsversuchen
am Alex ausgerechnet bei zwei Herren und einem Funkgerät von der ‘Stasi’ landete.
Zurück mit der U-Bahn ging es
anschließend in eine Peep-Show (aus der der Messias diesmal von allein das Weite
suchte) und in eine, für ihren exellenten Service berühmte Sauna. Am nächsten
Tag reiste man weiter nach Basel, wo das internationale Treffen aller konkurrierenden
Messiasse vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfinden sollte. Da ich als
Berichterstatter des ‘Gemeinen Ketzers’ zu jener denkwürdigen Zeit ebenfalls
in Basel weilte, holte ich die beiden vom Flugplatz ab. Was Anlaß genug war,
unser Friedenskalumet zu erneuern. 
Was nun im Detail zur Vorbereitung dieses globalen WETTBEWERBS, der ‘Beschaffung’ der
ganzen Horden an Messiassen, dem erstmaligen wirklichen Zusammenschluß aller
(!) Fernsehnetze (weit über das hinaus, was damals in der Stimme der Beatles
und ihrem ‘All you need is Love’ mitschwang), dem ganzen organisatorischen Teil
usw. usf. notwendig war und auch realisiert wurde, kennt ihr ja. Auch in Grundzügen
alle jene Namen, Geschicke, Stationen, Visionen und Behauptungen der einzelnen
Messiasse. Doch dann begann der WETTBEWERB, und Ihr mußtet schon wirklich einen
sehr seltsamen TV-Empfänger haben, wenn ihr den tatsächlichen Schluß dieser endgültigsten
aller Vorstellungen habt sehen können! 
Ich füge Euch hier das Gedächtnisprotokoll an, welches mir Achmed vor einiger
Zeit zugesandt
hat. Nach seiner und des Messias glücklicher Rückkehr nach Syrien waren
sie zuerst einmal damit beschäftigt, eine ehemalige Assassinen-Burg instandzubesetzen,
welche sie nun zusammen mit ihren Familien und Jüngern bewohnen. Da ein entferntes
Familienmitglied schon früh genug auf die Gesamttendenz der politischen und gesellschaftlichen
Ent- oder besser Mißwicklung aufmerksam geworden war, hatte es im mehreren versteckten
Lagern große Mengen an Fensterglas, Folien, Kupferblechen und -röhren gehortet,
aus denen nun Solarkollektoren gebaut und verkauft werden. In seinem letzten
Brief schrieb uns Achmed, daß sie sich damit sicherlich so lange  über Wasser
halten können, bis die ersten Hanfernten eingebracht, verarbeitet und versandt
sind. 
An dieser Stelle, liebe Schwestern und Brüder, möchte ich euch vorab schon darüber
informieren, daß wir über unsere Freunde in Amsterdam bald - in etwa 4 oder 5
Monaten - eine gewisse Menge dieses nahöstlichen Produkts anbieten können, denn
Dirk ist mit seiner Mannschaft schon aufgebrochen, und ihr kleiner Segelfrachter
ist  wegen seiner Geschwindigkeit ja weit berüchtigt... 
Doch laßt uns nun auf Achmeds Protokoll zurückkommen: 
„An den Beginn und ersten Verlauf des WETTBEWERBS kann ich mich nicht mehr gut
erinnern. Klar, jede Menge Würdenträger
und Reporter, ganze Heerscharen davon! Dagegen erschienen die gut 650 Messiasse
fast schon als  kleiner Haufen. Vielleicht war dieser Eindruck auch bezweckt
worden, wer weiß. Beethovens Neunte (mit der über ein berühmtes Medium endlich
diktierten Vollendung), süße kleine Mädchen mit glänzenden Augen und riesigen
Blumensträußen, Streit um die ersten Sitze usw. usf.
Zusammen mit Abu Mohammad, unserem Messias, hatte ich noch einmal einen Bummel
durch Basel gemacht - dann waren wir zu der neuerbauten Stadthalle gepilgert
und durch den Hintereingang in den großen Saal gehuscht. Aus dem Hintergrund
beobachtete ich die Blicke, die die geladenen Teilnehmer des WETTBEWERBS untereinander
austauschten, immerhin war ein jeder von ihnen der felsenfesten Oberzeugung,
er und nur ER würde der ‘Auserwählte Erlöser’ sein, dem die Massen dann folgen
und zujubeln würden. 
Da hie und da noch ein letzter Nachzügler kam, ließ ich meinen Maschinen-Messias an der Treppe zu den Sitzreihen noch etwas warten. Als endlich der Platz Nummer 665 besetzt wurde, brachte ich ihn auf Trab, so daß er den drauffolgenden Platz bekam. Ein gutes Omen, dachte ich mir, auch wenn ich etwas nachgeholfen hatte. 
Der große Saal war voll. Alle sehr aufgeregt, fast sämtlichen Begleitern und
Managern stand der Zweifel im Gesicht geschrieben, und nur einige wenige Messiasse
blickten nicht finster drein. Dann ging es los! 
Die Medienbosse hatten ganze Arbeit geleistet. Die Milliarden saßen von Flimmerkistenbildern
bezaubert in ihren Palästen, Häusern, Zimmern, Buden, Baracken, in Kinosälen
und in Stadien, wo mit TV-Beamern und riesigen Leinwänden gearbeitet wurde. In
aller Herren Länder, überall auf dem Planeten. Das weltumspannende McLuhan'sche
elektrische Nervensystem aus Kabelsträngen und Funkwellen vibrierte hektisch
- und auf allen Bildschirmen war ein sich schneller und schneller drehender Wasserwirbel
zu sehen, der dem Beobachter gleichsam entgegenkam, nur um dann mit einem großen
Tusch zu dem Gesicht des Ansagers und Conferenciers zu zerfallen. 
                              Die restlichen
                                Milliarden, alle jene, die außerhalb dieses planetarischen
                                Netzwerks geradezu dahinvegetieren, waren in
                                diesen schicksalhaften Minuten und Stunden zu
                                reinen Fleischklumpen, zu Protoplasma ohne (elektronisch
                                erleuchtetes) Bewußtsein reduziert und degradiert.
                                Die Macher aber, die Beweger und auch die Verzehrer,
                                sie alle sahen zu, waren Nerven, Ganglien, Befehlsübermittler
                                und Entscheidungsträger. Auf ihren Feedback-lmpuls
                                würde es letztlich ankommen, um ein für allemal
                                festzustellen, wer aus diesen Hundertschaften
                                miteinander konkurrierender Maschinen-Messiasse
                                jetzt und für
                                alle Zeit als der wiedererschienene Erlöser gefeiert
                                werden würde, wer auf Lebenszeit
                                den extra dafür neuerschaffenen (und von allen
                                Weltreligionen gemeinsam finanzierten) Platz
                                des ersten Ehrenvorsitzenden der UNO übernehmen
                                würde, und wer - was nicht
                                das Unwichtigste ist - die wahren Berge von Werbegeschenken
                                einheimsen würde,
                                welche seitens Abertausender von Firmen für diese
                                globale Medienwallfahrt, für
                                dieses Jüngste TV-Gericht spendiert worden waren.
                                Und wie gesagt, die Medienbosse hatten ganze
                                Arbeit geleistet. Der Ablauf sah so aus: Jeder
                                Messias bekam eine einzige Minute zur Verfügung
                                gestellt. Sechzig Sekunden lang würde er durch
                                die Linsen der TV-Kameras fokussiert gleichzeitig
                                in allen Wohnungen zu Hause sein, würde er in
                                allen Ländern elektronisch simulierte Anwesenheit
                                induzieren, simultangedolmetscht und farbig.
                                In den USA und in Japan sogar im ultramodernen
                                3-D-Holographieverfahren. 
  
                                Die ersten Maschinen-Messiasse waren enttäuschend. Doch dies änderte sich schlagartig, als Messias Nr. 17 (aus Finnland) aufgerufen wurde. Ein blonder Hüne schritt stolz und nackt auf das Podium. Er stellte sich direkt vor die mittlere Kamera, sah lange hinein und begann seinen Spruch von der all-erlösenden Füllhorn-Maschine. Die Minute raste. Aus mehreren katholischen Ländern - und aus Persien - wurden Zensurmeldungen empfangen, die auf den überall im Saal aufgestellten Monitoren in roter Schrift erschienen. Als der Nackte noch etwa zehn Sekunden hatte, sagte er mit seiner tiefen Stimme: ‘lch habe nichts zu verbergen’. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Doch selbst dieser Überraschungseffekt verblaßte. Insgesamt waren es mindestens zwanzig Unbekleidete, die im Saal auf ihren Auftritt warteten, wie sich mit der Zeit herausstellte. 
  
                                Und so - oder ähnlich - ging es weiter. Der WETTBEWERB
                                hatte am Sonnabendnachmittag um 17.00 Lokalzeit
                                begonnen und würde sicherlich mehr als dreizehn
                                Stunden lang laufen. Ich schaute nach meinem
                                Messias, und siehe da, gemütlich schlummerte
                                er auf dem bequemen Sitz. Seltsamerweise saß ihm
                                zur Seite kein weiterer mehr, es schien also,
                                als würde er wirklich mit seiner Endzeitnummer
                                als ‘letzter’ aufgerufen werden. Die Leitung
                                des WETTBEWERBS hatte vorher bewußt darauf verzichtet,
                                eine Prognose über die zu erwartende Teilnehmerzahl
                                anzustellen, denn zu viele bereits angemeldete
                                Teilnehmer hatten im letzten Moment abgesagt
                                oder waren aus den unterschiedlichsten Gründen
                                dazu motiviert worden, doch nicht am WETTBEWERB
                                teilzunehmen. Und umgekehrt. Fast gleichviele
                                meldeten sich  dennoch an oder wurden gar
                                erst wenige Tage vor dem WETTBEWERB ‘entdeckt’. 
  
                                Die Veranstaltung zog sich länger hin, als  ursprünglich
                                geplant. Es wurde ein ermüdender Marathon für
                                alle. Doch langsam lichteten sich die Reihen.
                                Viele der bereits vorgestellten Messiasse zogen
                                es vor, in ihren Hotels auf das Ergebnis des
                                WETTBEWERBS zu warten. Auch ich entfernte mich
                                von der Begleitertribüne, auf der ich, eingekeilt
                                zwischen einer dicken afrikanischen 'Mummy’ und
                                einem griesgrämigen Mongolen, ausgeharrt hatte
                                und legte mich etwas aufs Ohr. Als ich später
                                wieder in den Saal schaute, schlummerte mein
                                Messias immer noch (er sagte mir später, er hätte
                                bei allen Kandidaten wirklich höchst intensiv
                                der Übertragung gelauscht. Wobei ich hier meinen
                                Zweifel anmelden möchte - ich kenne ihn zu gut),
                                und der Maschinen-Messias Nr. 235 erzählte gerade
                                etwas mir nicht ganz Verständliches von einer
                                Regenbogenhaut, die dem Menschen das ewige Leben
                                schenken würde. Ein anderer gab ein Abführrezept
                                zum besten - ich war gezwungen, ihm gute Chancen
                                einzuräumen. Mit meinem Messias hatte ich  im
                                Vorfeld nicht über
                                seine Minute  geredet, ich hatte das Gefühl,
                                daß sich
                                so etwas für mich als ‘messianisch-besessenen’ Verkünder
                                einfach nicht schicken würde. 
  
                                Und während wir zwei lästernd über die anderen
                                Messiasse herzogen, ging der WETTBEWERB flott
                                weiter... Nummer 456 stand zum Beispiel ganz
                                stumm da (es war der einzige Moment, in dem der
                                Saal für eine
                                ganz kurze Zeit völlig still war), und sein Manager
                                nutzte die letzten 10 Sekunden für die Erklärung,
                                daß sein Schützling seine Verkündung telepathisch
                                versandt hätte. Im ganzen ging es aber sehr nüchtern
                                zu, um nicht zu sagen: phantasielos. Erst
                                der Messias Nr. 609 brachte wieder etwas Bewegung
                                in den Saal, als er - von sieben wunderhübschen
                                und aufreizend mit Strapsen und Ledergeschirr
                                bekleideten jungen Hermaphroditen auf einer runden
                                Sänfte getragen - das Podium erreichte und voll
                                in die Kamera pinkelte. Dies verzögerte dann
                                allerdings  den Fortgang des WETTBEWERBS, und
                                mein Maschinen-Messias und ich nutzten die entstandene
                                Pause um ein kräftiges Frühstück zu uns zu nehmen.
                                Auf der Bühne erscholl immer noch das wütende
                                Fluchen des Kameramannes, der nicht nur naß geworden
                                war, sondern auch noch einen kräftigen elektrischen
                                Schlag bekommen hatte. Erst als die Jury, der
                                 auch der Papst angehörte, geschlossen auf
                                ihn einredete, dämpfte sich sein Schimpfgebrüll
                                gegen 'alle Messiasse des Universums’ (wie er
                                sich ausdrückte). Als wir in den Saal zurückkamen
                                war schon der Messias Nr. 654 vorn. Er redete
                                Aramäisch. 
  
                                An die letzten paar Messiasse vor unserem - neben
                                ihm war immer noch frei, so daß ich mich einfach
                                zu ihm setzte - erinnere ich mich besonders gut.
                                Nur schienen mir die Minuten immer länger zu
                                werden - bis ein neuer auf dem Podium stand,
                                vergingen Ewigkeiten, so kam es mir vor. Dann
                                war es soweit. Plötzlich erscholl die Nummer.
                                Viele blickten in unsere Richtung, und vielleicht
                                dachten einige, ich sei auch ein Teilnehmer.
                                Abou Mohammad schaute mich an, und mir stieg
                                ein Kloß im Hals
                                hinauf. Ich versuchte mutig zu nicken, und der
                                Maschinen-Messias bewegte sich in Richtung Podium
                                und der Kloß im Hals langsam wieder herunter.
                                Was dann kam, dürfte sich wohl für alle Zeit
                                in mein Bewußtsein eingemeißelt haben - ihr kennt
                                es ja alle."
  
  
                                
                                Ich weiß, liebe Schwestern und Brüder, daß Achmed
                                in seinem Bericht nichts gebracht hat, was euch
                                im Grunde unbekannt gewesen wäre - doch wollte
                                ich mit  seiner lebendigen Schilderung
                                jene einmalige Situation in eurer Erinnerung
                                wiedererwecken, welche uns unsere neue Welt beschert
                                hat. Man kann sagen, daß der ganze WETTBEWERB
                                wie geplant und ohne größere Unterbrechungen
                                oder Schwierigkeiten ablief. Bis dann unser syrischer
                                Messias vor der Kamera stand und so scharf hineinblickte,
                                daß zuerst die Monitoren schlagartig ausfielen,
                                dann die Kameras - ich hörte das laute Fluchen
                                der Techniker selbst von meinem entfernten Platz
                                aus -, dann die Saalbeleuchtung und nach und
                                nach  jedes elektrische oder elektronische
                                Gerät
                                im gesamten Funkhaus, in ganz Basel, in der Schweiz,
                              auf der ganzen Welt. 
                              Doch davon erfuhr ich erst
                                später,
                                denn damals dachte ja jeder, der ‘Stromausfall’ sei
                                nur ein begrenztes lokales Phänomen. Auf jeden
                                Fall schafften es Achmed und der Maschinen-Messias
                                gerade noch so, dem einsetzenden Armageddon durch
                                einen Seitenausgang zu entwischen. In den Verlagsräumen
                                des Sphinx-Magazins trafen wir uns wieder. Dr.
                                Hofmann hockte auch dort und spekulierte mit
                                Bretschi und Hagenbach wie wild quer durch alle
                                Paralleluniversen und Zeitkrümmungen hinweg über
                                den quantenmechanischen Grund für den erschreckenden
                                neuen Sachverhalt. Sergius Golowin, der etwas
                                später erschien, berichtete
                                triumphierend, daß sein Kompaß weiterhin nach
                                Norden zeigte und daß ein Plastikkamm - etwas
                                mit einem Wollfetzen gerieben - auch immer noch
                                Papierfetzen anziehen würde. Während die anderen
                                Achmed und den Messias eher aufmunternd anblickten
                                (wahrscheinlich dachten sie, daß sich unsere
                                Freunde in Gewissensbissen wanden), grummelte
                                Golowin finster etwas von einer neuen Plasma-Lautsprecher-Anlage,
                                die er erst vor einigen Tagen erstanden hatte
                                und die er ja wohl nun wegschmeißen könne. 
                                
                                Doch will ich dieses Informationsschreiben nicht
                                noch länger werden lassen. Dank unserer Freunde in Basel und überall in der Schweiz und in Deutschland gelangten Achmed und der Messias - ich bin inzwischen sicher, eine Abstimmung hätte ihm eine große Mehrheit beschert - zuerst wieder nach Berlin, wo sie Zeugen der großen Mauersprengung wurden, dann starteten sie zu ihrer zweijährigen Odyssee in die Heimat Syrien. 
                                
                                Wie und warum aber der Maschinen-Messias das
                                globale Energie- und Informationsnetz auf vermutlich
                                atomarer Ebene kurzgeschlossen hatte, weiß ich
                                nicht. Es ist mir bisher auch noch nicht gelungen,
                                eine nur halbwegs vernünftige wissenschaftliche
                                Erklärung dafür zu finden, geschweige denn, dem
                                Messias damals auch nur das geringste Sterbenswörtchen
                                diesbezüglich zu entlocken. Als ich Achmed 
                                fragte, winkte er ab: "Vergiß nicht, der Messias
                                ist nur ein Mittler für die Allkraft, für Gott,
                                für ES, für Allah. Und woher sollen wir wissen,
                                was SEINE Pläne sind? Abu Mohammad ist ein Mensch.
                                Wahrscheinlich trauert er genau wie alle anderen
                                um sein Transistorradio...!"
                                
                                
                                Und so verblaßt langsam die Erinnerung, während
                                unsere Wissenschaftler alle paar Wochen eine
                                Theorie wieder verwerfen, an der sie zuvor monatelang
                                bei Kerzenlicht herumgebastelt hatten. Von kosmischen
                                Unwesen reden sie und von Synchronbrennpunkten
                                extrem starker Emanationen, von interatomaren
                                Interferenzfeldern und von schlichter einfacher
                                Zauberei. Und Sergius zum Trotz wirbeln inzwischen
                                sogar Kompasse, wenn man sie flach hinstellt.
                                Vielleicht, liebe Schwestern und Brüder, ist
                                diese 'neue' Welt doch die Erlösung, das Paradies.
                                Einfach und naturverbunden. Immerhin hat der
                                Messias auch den Antichristen, den 'Einäugigen
                                Lügner’ vernichtet. Denn so wurde er im Nahen
                                Osten schon seit vielen Generationen  genannt,
                                er, der Herr über spannengroße Menschen, er,
                                der die Toten lebendig erscheinen läßt, doch
                                nur als Schwindel... Ja, im Volksmund wurde ihm
                                die Endzeit zugeschrieben, die letzte Lüge,
                                ihm, dem TV! 
                                
                                Doch das Spanholz rußt und draußen kräht schon der Hahn. Nächste Woche werden wir hier am Neckar unsere erste 3-m-Maschine in Gang setzen. Zur Bewässerung sind diese Wasserwirbelsysteme optimal. Und wer weiß, vielleicht kulminiert sich irgendwann wieder ein Elektronenübergewicht, das wir in Drähten leiten können... 
                                
                                Seid in diesem Sinne lichtvoll mit Grüßen bedacht,
                                von eurem Bruder in Aquarius, 
                                
                                Ronald Rippchen 
                                Freibezirk Löhrbach 
                                im Odenwald 
                                                            
                              
  Originaltitel: Al-Musabaka
                                
                                Copyright (c) 1984 by Ghassan Homsi, Damaskus
  
                                Copyright (c) 1984 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München; erschienen in: 'Die Gebeine des Bertrand Russell' - Internationale Science Fiction Stories 
  
                                Aus dem (syrischen) Arabisch übersetzt 
                                von A. M. Al-Khammas, Berlin
                              Leicht überarbeitete und korrigierte Version,
                              Oktober 2013
                               
                              
                                Anm.: Über die Messias-Maschine selbst
                                gibt es im Buch
                              der Synergie mehr zu erfahren!