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Das Sterben des Mohammad ben Ahmad Hinti

Eine tragisch-komische Geschichte aus der syrischen Wüste - wie sie das Leben schreibt. Oder eben der Autor Abdassalam Udscheili aus Raqqa/Syrien. Erschienen ist diese Übersetzung 1983 in der 'Zeitschrift für Kulturaustausch' des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart.


Foto von Ujayli

Abdassalam Udscheili (o. Ujayli), rechts, Ort und Datum unbekannt



Das Sterben des Mohammad ben Ahmad Hinti

von Abdassalam Udscheili
stilgetreu übersetzt von Achmed A. W. Khammas, Damaskus



Mohammad ben Ahmad Hinti öffnete seine Augen, und sie füllten sich mit dem Anblick glänzender und leuchtender Punkte, auf einer dunklen, tiefblauen Fläche. Das erste, was Mohammad ben Ahmad Hinti einfiel, war, daß diese leuchtenden Punkte wohl die Sterne der Nacht seien und die dunkle Fläche darüber nichts anderes als der finstere Himmel. Aber warum hingen die Sterne dann vor seinen Augen und nicht darüber? Und wie konnten sie seinen Augen so nah erscheinen? Ferner, wenn diese hellen Punkte wirklich Sterne waren, weshalb rannten sie dann vor ihm davon, als würden sie der Peitsche eines Verfolgers entfliehen?

Wahrlich, die Verwirrung ergriff Mohammad ben Ahmad Hinti im selben Moment, als sich seine Augen diesen hellen Punkten öffneten, obwohl er seine Verwirrung wahrscheinlich nicht in jenen, zu Beginn dieser Sätze geschriebenen Worte hätte ausdrücken können, und sei es auch nur in Gedanken. Denn Mohammad ben Ahmad Hinti ist ein Mann geringer Herkunft und geringer Verstandesanlagen, wobei Du wissen mußt, daß er vor dem Beginn der Ereignisse dieser Geschichte als Lagerverwalter im Korn-Khan des Bab-el-Nirab Stadtviertels in Aleppo tätig war, und erst durch jene bestimmten Gründe, deren Spuren Du in dieser Geschichte finden wirst, gezwungen war, ein umherziehender Händler in der Al-Zeidi-Steppe nördlich des Euphrats und im Norden Syriens zu werden. Also, Mohammad ben Ahmad Hinti ist nicht in der Lage, die Gründe seiner Verwirrung zu erklären, welche ihn beim Anblick der sternähnlichen, vor seinen Augen die Flucht ergreifenden hellen Punkte befiel, und diese Verwirrung auf ihre Ursachen zurückzuführen. Daher haben wir ihm dies so abgenommen, ebenso wie wir ihm im Folgenden die Darstellung einiger Ereignisse aus seinem Leben abnehmen werden, sowie deren Untersuchung und Einordnung in eine von uns als geeignet betrachtete Reihenfolge, damit seine Geschichte verständlich, annehmbar und angenehm wird.

Die Verwirrung ergriff Mohammad ben Ahmad Hinti, als er seine Augen öffnete und die vor seinem Blick fliehenden Sterne sah. Zu Beginn dachte er, er sei von einem Kreiseln, einem Schwindelgefühl befallen. Aber er wußte, daß bei einem Schwindelanfall die Sterne rund um seinen Kopf herum kreisen und sich dabei miteinander vermischen würden, daß dann die sich unter ihnen befindliche Erde erhebt und der sich über ihnen befindliche Himmel niedergeht und sich dieser mit jener vermischen. Hier jedoch fällt weder der Himmel noch hebt sich die Erde, sondern das einzige, was er sieht, ist der schnelle Rückzug des Himmels mit dessen Sternen vor seinen Augen. Daher versucht er, seinen Kopf zu drehen, um sich zu vergewissern, daß dieses Ereignis wirklich vor seinen Augen stattfindet, ebenso wie er auch versucht, seinen Körper zu bewegen, um sich von seinem Platz auf der Erde unter dem Himmel zu überzeugen; doch er vermochte weder dies noch jenes. Sein Hals gehorchte ihm nicht, als er versuchte, seinen Kopf zu drehen, und in seinem Körper verspürte er, als er damit begann, sein Bein zu bewegen, einen scharfen Schmerz, einen Schmerz, der dem hineinstechen einer Klinge in seine Därme glich, sich genauso bewegend wie die Bewegungen seines Beines, ja allein schon wie die Gedanken daran, dieses Bein zu bewegen. Und so zog er sich schnell von diesem Versuch zurück und verharrte in der sein Selbst erfüllenden Verwirrung, jene Scharen von vor seinen Augen hinweg fliehenden Sternen mit seinem Blick verfolgend, wobei ein jedes Mal, wenn aus seinem Blickfeld eine Schar entschwunden war, eine andere Schar deren Platz einnahm. Doch seine Bewegungslosigkeit bewahrte ihn nicht vor dem Schmerz. Feine Schmerzen, durchdringende Schmerzen begannen an den Seiten seines Körpers zu erwachen, allein dadurch, daß er sich über seine Lage klar wurde und sie bewußt erfaßte. Und sogar jener dem Hineinstoßen einer Klinge so ähnelnde scharfe Schmerz in seinen Därmen begann sich zu verstärken und auf dem Schauplatz seiner Gefühle hervorzuragen. Er versuchte mit seiner Hand und sehr vorsichtig, den Schmerzensherd an seinem Bauch zu befühlen, doch seine beiden Hände gehorchten ihm nicht in der Bewegung, sie waren schwer, wie angebunden, und genauso schwer war sein Atmen, so, als säße ihm jemand auf der Brust. Er bemerkte, daß er nicht stand, sondern dahin gestreckt lag. Doch was bewegt sich da unter ihm und ihn andauernd hinunter und hinauf, was sind das für Geräusche, die seine Ohren mit Lärm erfüllen, und was diese Wolke, die rechts und links von ihm aufsteigt, über ihm zusammenschlägt, ihn bedeckt, und ihren Staub bis in die Tiefe seiner Brust gelangen läßt?...

Und plötzlich wich die Dunkelheit vom Verstand des Mohammad ben Ahmad Hinti, worauf er den Grund all dessen, was ihn so verwirrt hatte, erkannte, wie er nun auch erkannte, aus welchem Grund er die Sterne vor seinen Augen fliehen sah, wie vor der Peitsche eines Verfolgers wegrennend. Denn er lag oder war hingelegt worden auf der Ladung eines hohen Lastwagens, auf einer groben und harten Bettstatt aus Säcken voll Weizen oder Gerste, und der Lastwagen durchquerte mit ihm die staubvolle Steppe im Dunkel der Nacht... Hier lächelte Mohammad ben Ahmad Hinti oder vielmehr, er versuchte zu lächeln, sich selbst darüber auslachend, wie sehr er sich doch in den Tiefen seines Schlafes verirrt hatte, so daß ihn die Flucht der Himmelssterne vor seinen Augen in eine derartige Verwirrung gestürzt hatte. Er versuchte zu lächeln, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht, denn jener Schmerz, der Schmerz der scharfen Klinge, revoltierte plötzlich in seinen Därmen, als das schwere Fahrzeug in eines der vielen Schlaglöcher der Steppenpiste sackte. Dies hinderte ihn daran zu lächeln und erweckte in ihm eine neue Verwirrung: Wie kam es, daß er dahin gestreckt auf Weizensäcken lag, über der Ladung dieses Lastwagens, anstatt hinter seinen beiden Eseln, von denen der eine mit Weizen und der andere mit Waren bepackt ist, die er den Beduinen der Zeidi-Steppe verkauft? Und was ist das für ein Schmerz, oder vielmehr, was sind das für Schmerzen an allen Stellen seines Körpers, die ein jedes Mal aufflammen, wenn er sich selbst oder wenn das Auto seinen Körper bewegt... Er erinnert sich jetzt, bei Sonnenuntergang hinter seinen Eseln gewesen zu sein, am Fuß der Ruine, sich wünschend, den Brunnen und das Haus zu erreichen, wo er sich ausruhen und den verbleibenden Rest seiner Waren verkaufen wird. Ebenso erinnert er sich, wie jener Beduine aus der Ruine zu ihm herabgestiegen kam, welcher zwischen seinen Fingern eine Zigarette hielt, die er sich anzünden lassen wollte. Er war verschleiert, und es ist verwunderlich, daß jemand, der seine Zigarette anzünden will, verschleiert ist. Doch Mohammad ben Ahmad Hinti wurde von dem Schleier des Beduinen nicht daran gehindert, dessen Gesichtszüge zu sehen und diese sorgfältig zu betrachten. Und als er ihm dann näher kam ...

In diesem Moment schlug der Wagen in ein weiteres Schlagloch der Piste, und die Därme des Mohammad ben Ahmad Hinti wurden von einem derart starken Schmerz zerrissen, daß dessen Ertragen seine Kräfte überstieg, daß die Verbindung zwischen seinem Fühlen und Erfassen unterbrochen wurde, und daß damit auch seine Erinnerung das Vortragen der Geschehnisse an sein Bewußtsein beendete...

Als Mohammad ben Ahmad Hinti zu sich kam, öffnete er ein zweites Mal seine Augen, oder vielmehr, er öffnete sie, nachdem er zu sich gekommen war, und in seine Erinnerung kehrte das Bild der vor seinen Augen flüchtenden Lichtpunkte zurück, dem Ergebnis der Fortbewegung des Lastwagens, welcher ihn hoch oben auf seinen Säcken mit sich trug. Doch diesmal sah er die Lichtpunkte in einer anderen Art und Weise als zuvor. Sie flüchteten nicht mehr vor seinen Augen, sondern er sah sie - oder andere helle Punkte - viel näher über seinem Kopf als jene, welche er zuvor gesehen hatte, und von denen er angenommen hatte, sie seien Sterne, wobei sie in Wirklichkeit vielleicht gar keine Sterne waren, denn sicher war er sich nicht; sein Kopf steckte in einem Wirbel und sein Denken in einem Nebel... Wichtig ist, daß er die hellen Punkte jetzt in einer anderen Form sieht, als zuvor; sie sind glänzender, näher und vielfarbig, so sind einige weiß, einige rot, und andere wiederum grün. Außerdem - und dies ist das Verwunderliche dabei - leuchten sie einmal auf, dann gehen sie wieder aus, und so fort. Wenn sie aufleuchteten, dann füllten sie seine Augen mit grellem Licht und blendeten ihn derart, daß er außer ihrem Gleißen nichts anderes mehr erkennen konnte. Gingen sie aber aus, so ertranken seine Augen in einer undurchdringlich schwarzen Dunkelheit, so daß er der Illusion erlag, erblindet zu sein und seine Sehkraft verloren zu haben. Zusammen mit der Folge von Hell und Dunkel spürte er, daß auch seine Augen vom gleichen stechend scharfen Schmerz betroffen waren wie seine Därme, und daß dieser sich jedes Mal verstärkte und neu auftobte, wenn seine Lider sich senkten und ihre Enden sich berührten. Mohammad ben Ahmad Hinti mußte ein weiteres Mal zum Denken zurückkehren, um dieses neue Rätsel zu lösen, welches sich seinen Augen darbot. Doch er war - wie wir bereits vorangestellt hatten - ein Mensch einfacher Herkunft und einfachen Gemüts und hatte daher selten den Wunsch, den Wahrheitsgehalten von Dingen auf den Grund zu gehen. Und so streikte er gegenüber dem Versuch, die Gründe für seine Verwirrung zu erfahren, und gab sich körperlich wie geistig all jenem hin, was um ihn herum an Dingen und Anstößen geschah. Wäre es ihm in jener Lage möglich gewesen, sich nicht nur mit der Ruhe der Gedanken und des Geistes zufrieden zu geben, sondern auch sein Sehen und Hören abzustellen, so hätte er es getan. Doch dieses war schwierig für ihn. Und beim Hören war die Lage noch schwieriger als beim Sehen, denn auch wenn er seine Augen schließen konnte, um nicht sehen zu müssen, so besaß er nicht die Kraft, seine Ohren vor den nun lauter werdenden Geräuschen und dem um ihn herum anhebenden Lärm zu verschließen. Der Lärm um Mohammad ben Ahmad Hinti begann Stück für Stück lauter zu werden; aber vielleicht war es auch schon vorher laut gewesen, und nur die Sinne des Mohammad ben Ahmad Hinti begannen sich nun zu schärfen, um schrittweise diesen Lärm in immer klarerer Form zu erfassen. Das erste, was Mohammad ben Ahmad Hinti aus diesem Lärm heraus hören konnte, war eine Frage, die ihm von unten her entgegen scholl:

- Wie, oh Doktor, bist Du heil angekommen?

Und eine Stimme, deren Besitzer sich anscheinend neben Mohammad ben Ahmad Hinti zu befinden schien, eine Stimme, die nach einem Stoßseufzer der Erleichterung zu hören war, antwortete:

- Ja, Allah sei Dank, seid beruhigt.

Hätte Mohammad ben Ahmad Hinti seine Kraft besessen und ein klares Bewußtsein, es wäre ihm bestimmt aufgefallen, welch ein Spott in der Stimme dessen mitschwingt, der da neben ihm Allah preist. Doch Mohammad ben Ahmad Hinti besaß nur seine Sinne, und diese trugen ihm die äußeren Einflüsse zu, ohne dabei in seinem Innern eine Vorstellung oder Spiegelung des Verstehens oder Beurteilens zu bewirken. Und so kroch der Lärm auf sein Hören zu, mit diesem Gespräch über ihn selbst. Dann krochen Schatten in sein Blickfeld, verursacht von einer dunklen Masse zwischen seinen Augen und den Lichtern, die ihn von Zeit zu Zeit blendeten. Es war die Gestalt jenes Mannes, der neben ihm gesprochen hatte, und den er nun rufen hörte:

- Sag dem Hoteldiener, er soll dieses Licht ein wenig feststellen, damit ich sehen kann, was für einen Menschen ich zwischen den Händen habe. Wie soll ich bei diesem abgehackten Licht etwas unterscheiden können?

Ihm antwortete die Stimme, die von unten her zur Lagerstatt des Mohammad ben Ahmad Hinti hinauf klang:

- Dieses abgehackte Licht ist der Quell des Stolzes des Besitzers des Jala'-Hotels, oh Doktor. Er brachte extra einen spezialisierten Elektriker aus der Stadt Aleppo hierher, um es so wundervoll in diese abgehackte Form zu bringen. Wie willst Du also von dem halb blöden Hoteldiener verlangen, seine Hand an dieses Wunderwerk zu legen?

Der Mann, der sich neben Mohammad ben Ahmad Hinti befand, hob ärgerlich seine Stimme:

- Ich denke, ich bin der erste Arzt in diesem Land, der einen Kranken bei einem Licht untersucht, das zehnmal in der Minute an und aus geht, auf einem Berg von Weizensäcken, zehn Meter über dem Erdboden. Wo ist Deine Wunde, oh Junge?

Es war klar, daß der letzte Satz an Mohammad ben Ahmad Hinti gerichtet war, der die Worte zwar auch hörte, ihre genaue Bedeutung jedoch nicht erfassen konnte. Aber die Schwingungen des Wortes Wunde, die in den feinen Organen seines Gehörs weiter geleitet wurden, begannen zwischen den Seiten seines Bewußtseins nachzuhallen, bis sie damit endeten, in seinem Denken etwas verursacht zu haben. Und wie ein häufiges Echo schien eine Stimme in der Tiefe des Verstandes des Mohammad ben Ahmad Hinti zu wiederholen:

- Wunde... Wunde... Wunde...

Worauf der Mann an seiner Seite, von dem wir nun wissen, daß er Arzt ist, zu seinem Freund sagte, wie verzweifelt darüber, überhaupt eine Antwort auf seine Frage bekommen zu haben:

- Du hast gesagt, er kommt aus der Zeidi-Gegend. Das heißt, er hat einhundert fünfzig Kilometer auf dem Rücken dieses luxuriösen Fahrzeugs verbracht, das mit allen Notfallausrüstungen und Heilmitteln ausgestattet ist... einhundert fünfzig Kilometer im Staub der Steppe, in der Kälte der Nacht, auf einem Bett aus Weizensäcken, hoch oben auf einem Lastwagen - und dies mit einem Verletzten, der eine Kugel im Bauch hat! Es ist die absolute Spitze dessen, was die Chirurgen des Universitätskrankenhauses für ihre verwöhnten Patienten an Pflege verlangen ... Was kann ich denn für diesen Mann, hier wo wir uns befinden, tun??...

Die Hand des Arztes hatte unter dem alten Fell, das den Körper des Mohammad ben Ahmad Hinti bedeckte, ihre gesuchte Stelle gefunden und betastete die verhärteten Seiten seines Bauches. Mohammad ben Ahmad Hinti selbst aber war woanders, denn die Echos des wiederholten Wortes Wunde führten ihn zurück zu jenem Anblick, der sich ihm bei Sonnenuntergang geboten hatte, als jener verschleierte Mann zu ihm herabgestiegen kam...

Die Verwunderung des Mohammad ben Ahmad Hinti war an ihrem Platz, als er sich darüber wunderte, einen Mann zu sehen, der seine Zigarette anzünden will, während sein Schleier sein Gesicht bedeckte, denn dies war keine vernünftige Handlung. Wahr ist, daß jener Mann, als er vor Mohammad ben Ahmad Hinti angelangt war, mit seiner rechten Hand an seine linke Seite griff, und bevor unser Freund die Bedeutung dessen erfassen konnte, was er sieht und hört, hatte ihm der verschleierte Mann die Öffnung einer Pistole entgegen gerichtet, eine dunkle Öffnung mit einem Ring von trübe glänzendem Metall drum herum, und Mohammad ben Ahmad Hinti hört ihn einen Satz sagen, der durch den heißen Ton des Schusses nicht überdeckt wurde:

- Stirb, möge Allah Dir keine Gnade gewähren!...

Als der Arzt auf die Weizensäcke hinaufkletterte, die auf dem Lastwagen aufgestapelt waren und die von einer dicken Schicht roten Sandes aus fest zusammenhaftenden Körnern bedeckt waren, was seine deutlichen Spuren auf dem dunklen Anzug des Arztes hinterließ; als der Arzt die Weizensäcke emporkletterte, um die Wunde des Mohammad ben Ahmad Hinti zu untersuchen, unter dem abgehackten Licht der Werbetafel des Jala'-Hotels, ging die Nacht bereits ihrem Ende zu. Es war die Meinung des Arztes, welcher vermutete und mutmaßte, da er unmöglich unter diesen schlechten zeitlichen und örtlichen Umständen die Feinheiten der Verwundung sehen konnte, seine Meinung war, daß die Kugel die Innereien des Bauches durchbohrt hatte und daß dieser Körper, der dahin gestreckt in der Kälte der Nacht auf dem Gipfel der Kornsäcke lag, davon bedroht war, daß seine Seele ihn noch vor Ablauf eines ganzen Tages verlassen würde und daß die Hoffnung - falls es Hoffnung gab - nur in seiner Behandlung in einem Krankenhaus umfassender Bereitschaft liegt. Und dies bedeutet, daß die Reise mit ihm nach Aleppo hin fortgesetzt werden müsse, zweihundert Kilometer von dem Ort entfernt, an dem er sich jetzt befand. In dieser Meinung, die der Arzt kundtat, lag eine endgültige Entscheidung, das Abwälzen der Verantwortung von sich, und die Eröffnung der Möglichkeit für ihn, zu seinem erholsamen Schlaf in seinem weichen Bett zurückzukehren, ruhigen Sinnes und Gewissens.

Die Meinung des Arztes, Mohammad ben Ahmad Hinti nach Aleppo zu schicken, war angebracht, besonders, da dieser ja aus Aleppo stammte und sich seine Familie und seine Sippe dort befanden. Doch es gab einige Schwierigkeiten, welche die Verwirklichung dieses Vorschlags vereitelten. Zu diesen Schwierigkeiten gehörten so auch unter anderem die Beamten der Landwirtschaftskontrolle, die ihre Arbeit am Brückenkopf versahen. Denn diese Beamten verweigerten dem Fahrer des Lastwagens die Weiterfahrt nach Aleppo, und zwar, weil sie dessen Behauptung, seine Fracht an Weizensäcken wöge neun Tonnen und dreihundert zwanzig Kilogramm, nicht glaubten, und das Gewicht der Ladung ihrerseits auf zweihundertachtzig Kilogramm mehr schätzten, als wie von seiten des Fahrers angegeben, und so untersagten sie die Abfahrt des Fahrzeugs, bevor nicht die Fracht Sack für Sack abgeladen und gewogen werden würde. Es gab natürlich eine Möglichkeit für den Fahrer, die Landwirtschaftskontrolleure von der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen, doch er zog es vor, von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch zu machen, war er doch vom Besitzer des Weizens nicht dazu bevollmächtigt worden, die Beamten zu bestechen; dazu kam, daß er nicht der Besitzer des Lastwagens war, sondern nur ein gemieteter Fahrer, dem es gleichgültig war, ob das Fahrzeug die Nacht am Kontrollposten verbrachte oder weiter fuhr. Selbstverständlich gab es auch noch die Möglichkeit, da die Weiterfahrt des Lastwagens nun nicht mehr stattfinden konnte, Mohammad ben Ahmad Hinti entsprechend dem Rat des Arztes in einem anderen Fahrzeug nach Aleppo zu befördern, zum Beispiel in einem kleinen, bequemen und schnellen Personenwagen. Doch eine weitere Schwierigkeit verhinderte auch diese angebrachte Lösung, eine Schwierigkeit, die sich kurzgefaßt auf die Fragestellung zurückführen läßt, wer sich denn nun über die Länge dieser Strecke hinweg um den Verletzten kümmern würde, und wer - was das Wichtigste dabei ist - für die Anmietung jenes Fahrzeuges aufkommen soll. Aus diesem Grund mußte Mohammad ben Ahmad Hinti bleiben, wo er war. Was diese letzte Lösung noch leichter machte, war, daß sich Mohammad ben Ahmad Hinti selbst einer tiefen Ohnmacht ergeben hatte, weder tot noch lebendig dalag, was seinerseits dem Volk, nämlich dem Fahrer des Lastwagens, den Soldaten der Wüstenwacht, die den Verwundeten unter Leitung ihres Feldwebels hierher gebracht hatten, und den Männern des Landwirtschaftskontrollpostens half, seine Lage zu vergessen, und sich, den Morgen abwartend, dem Schlaf hinzugeben.

Und wie es vorherbestimmt war, kam der Morgen. Doch der Morgen ist hier nicht die Dämmerung oder das Aufgehen der Sonne hinter dem östlichen Horizont, sondern es ist der Morgen der Arbeit; der Arbeit des Richters, des Gerichtsschreibers, des Arztes und der Offiziere der Polizeiwache, es ist daher eine Zeit, die mit dem Stand der Sonne zum Zenit nichts zu tun hat, sondern nur mit dem Lebenswandel und der Laune eines jeden von ihnen. Der Morgen war an diesem Tag einige Minuten vor zehn Uhr, und er brach herein über Mohammad ben Ahmad Hinti, daliegend in einem zerfetzten Mantel aus Schafsfellen und einem dreckigen Überwurf auf dem Boden der staatlichen Ambulanzstation eines kleinen Dorfes. Er war ohnmächtig, was uns dazu veranlaßt, seine Geschichte weiter zu erzählen, anstatt weiterhin jene Gefühle aufzuzeichnen, welche sich in seinem Kopf herum bewegten. Woher sollten wir auch wissen, was in seinem Kopf oder in seinem Geist los war, während jener Ohnmacht... Was wir aber wirklich erfahren konnten, ist das, was wir gesehen haben, als der Arzt den Puls des Mohammad ben Ahmad Hinti fühlte, während seine Augen auf seine Uhr gerichtet waren, und als er zum Richter sagte, daß der Puls fadendünn sei und daß er einhundert zwanzig Schläge in der Minute zähle. Der Arzt zog seine Mundwinkel herunter, während er dem Gerichtsschreiber die Eigenschaften der Verwundung diktierte, den Weg des Geschosses von oben nach unten und von links nach rechts bis in die rechte Hüfte, und während er die Anzahl der Löcher in den Därmen des Mohammad ben Ahmad Hinti schätzte, und zwar auf sechzehn bis zwanzig Stück, wobei er nicht vergessen hatte, daß Löcher in Därmen bei einer Geschoßverwundung immer zweifach zu zählen sind. Die Schätzung des Arztes war zwar nicht für das vom Gerichtsschreiber geführte Protokoll vorgesehen, er nannte sie aber, um den Anwesenden zu zeigen, wie schwach die Hoffnung einer Errettung des Mohammad ben Ahmad Hinti vor seinem besiegelten Schicksal sei.

In der Nähe der Tür, der Tür der staatlichen Ambulanzstation, befand sich jener Feldwebel der Wüstenwacht, welcher das Opfer und den Täter zusammen hergebracht hatte. Dieser Feldwebel erzählte seine Geschichte einer Anzahl von Händlern, die aus Aleppo stammten und die sich gegenseitig zusammengerufen hatten, als sie vom Schicksal jenes umherziehenden Händlers hörten, der, genauso wie sie selbst, aus Aleppo kam, und zwar um diesem zu helfen und seinen Abtransport in das Krankenhaus von Aleppo zu ermöglichen. Da nun ein jeder dieser Händler seinen Anteil an den Mietkosten des Wagens bezahlt hatte, der allerdings noch nicht angemietet war, sah er es als sein Recht an, die gesamte und detaillierte Geschichte von seiten des Feldwebels zu hören, welcher es wiederum als seine Pflicht ansah - und es ist eine angenehme Pflicht - seine Informationen diesen sehr verdienstvollen Herren vorzutragen, wobei er von Zeit zu Zeit, den Saum seines Militärgewandes dabei ausschüttelnd, wiederholte: Wir nehmen Zuflucht zu Allah vor Fehlern! Womit er sich der Verantwortung entledigen will, einen Unschuldigen einer Straftat zu verdächtigen, was im Brauch der beduinischen Seele auch eine schwere Verantwortung ist, besonders dann, wenn die Verdächtigung auf Mord lautet, wie bei dem Verdacht gegenüber M'eschar ben Thubban, oder auf Vergewaltigung, wie im Falle des Mohammad ben Ahmad Hinti.

An dieser Stelle ziemt es sich für uns, zu Mohammad ben Ahmad Hinti zurückzukehren, und zwar deshalb, weil dieser selbst damit begonnen hat, zu sich selbst zurückzukehren. Doch seine Rückkehr zu sich selbst war für die Augen des Richters, des Arztes, der Polizeioffiziere und all deren Gefolgschaft nicht ersichtlich, da diese Herren seine Glieder bewegungslos, seine Augen geschlossen und seine halb geöffneten Lippen steif sahen und dadurch auch annahmen, er würde immer noch in seiner Ohnmacht verweilen, nichts erfassend, nichts sehend und nichts hörend. Und so setzten sie mit lauter Stimme ihr Gespräch vor Mohammad ben Ahmad Hinti fort, ohne dabei seiner Wachsamkeit Rechnung zu tragen.

Es war die Reihe am Feldwebel der Wüstenwacht zu erzählen, und so begann er dem Richter in aller Ausführlichkeit darzulegen, welch eine Mühe er aufgebracht hat, seitdem er von dem Vorfall gehört hatte. Der Wüstenwacht-Feldwebel gab sich bescheiden und erwähnte, daß die Umstände zu seinen Gunsten sprachen, da er sich auf einer Patrouille am Rande der Ruine befand und somit den Täter auch leicht ergreifen konnte. Doch die Art und Weise seiner Bescheidenheit wies auf seine tiefe Gewißheit hin, daß ein anderer Wüstenwacht-Feldwebel als er selbst keinesfalls die Gelegenheit so hätte nützen können, wie er es getan hatte. Als der Richter ihn fragte, was ihn dazu geführt hatte anzunehmen, daß M'eschar der Täter sei, begann er die stichhaltigen Gründe aufzuzählen, welche ihn dazu veranlaßt hatten, diesen Beduinen festzunehmen. So traf er ihn alleine in der Nähe des Tatortes an, und er, also M'eschar, trug eine Pistole, deren Mündung den Geruch von Pulver ausströmte, und er, also wiederum M'eschar - und dies ist das Wichtigste - ist Bruder eines Mädchens namens Subha, von welcher in den Lagerplätzen erzählt wurde, daß sie im letzten Frühling vergewaltigt worden sei; ein umherziehender Händler hätte sie vergewaltigt. Und zu Allah nehmen wir Zuflucht!...

Es war nicht von geringer Bedeutung, was der Feldwebel der Wüstenwacht da erzählt hat. Seine Wirkung auf die Anwesenden zeigte sich schnell, und so wies der Polizeioffizier an, Neugierige, selbst wenn sie die Mietkosten des Wagens bezahlt haben, der Mohammad ben Ahmad Hinti nach Aleppo transportieren wird, daran zu hindern, nah genug heranzukommen, um die Informationen, die der Feldwebel darlegte, mithören zu können. Der Gerichtsschreiber richtete sich auf, um diesen Teil des Protokolls in klaren Ausdrücken und sehr gut lesbaren Buchstaben niederzuschreiben, und selbst von seiten Mohammad ben Ahmad Hintis zeigte sich, trotz seiner äußerlichen Bewußtlosigkeit, eine Regung wie von jemandem, der sich am Gespräch beteiligen will, doch seine Kräfte waren unfähig, ihm entgegenzukommen, und so blieb den ihn Umgebenden seine Regung verborgen. Der Richter jedoch, ein unverheirateter junger Mann, noch unvertraut mit dem Amt und dem Hören der Schandtaten der Leute, erkundigte sich neugierig, was er auch nur schlecht mit der Amtspflicht zu maskieren wußte, bei dem Wüstenwacht-Feldwebel danach, was denn dieser über die Vergewaltigung jenes Mädchens namens Subha wisse. Und so trug der Feldwebel alles vor, was er aus den Mündern der Leute in seinem weit entfernten Wachposten gehört hatte - er trug es vor, während er bei Allah um Zuflucht nachsuchte. So hätte die Frau des Vaters der Subha es versäumt, einen Kamm aus schwarzem Horn zu kaufen, während sich der umherziehende Händler noch zwischen den Lagerplätzen befand, und sie verlangte deshalb von Subha, der Tochter ihres Mannes, daß diese mit einem Beutel voll Weizen hinter dem Händler hereilen möge, ehe sich dieser zu weit von den Lagerplätzen entfernen würde. Und der Feldwebel beschrieb, während er dabei Allah um Zuflucht ansuchte, wie das Mädchen dem umherziehenden Händler hinterher eilte, bis sie ihn in einem grünen Tal, durch welches er seine Esel führte, einholte. Es war die Zeit des Sonnenuntergangs, und der Schatten bettete den Talboden mit einem Lager aus grünem Gras aus, geschmückt durch die Blumen des Steppenfrühlings. Wer kann je davon Kenntnis erhalten, wie in jenen Momenten das stattgefunden hat, worüber die Zungen reden, in jener Stille und Einsamkeit, wo sich die Beduinin, Tochter ihrer achtzehn Jahre, gegen den fremden Jüngling aufgelehnt hat, der vor Kraft überschäumt und vor Begierde kocht... Passiert war dies vor einigen Monaten, und wie jedes Geheimnis in der Steppe und außerhalb der Steppe, führte es zur Bloßstellung, und dies - wobei wir Allah um Zuflucht ansuchen - ist das Ergebnis all dessen...

Der Wüstenwacht-Feldwebel schwieg, nachdem er dem Richter alle seine Informationen, Annahmen und Bemerkungen dargelegt hatte, und es blieb daher nur noch, M'eschar, den jungen Beduinen, zu holen, welchen er am Abend des Vortages in der Nähe der Ruine gefaßt hatte und welcher eine Pistole mit sich trug, die Pulvergeruch ausströmte - als leicht zu schluckenden Happen für die Richter. Jeder von denen, die den Bericht des Feldwebels vernommen hatten, für welchen es sich ja gehörte, nicht willkürlich und nach Belieben zu erzählen, ein jeder von ihnen hatte sich die Tat der Vergewaltigung in dem grünen Tal am späten Nachmittag eines Frühlingstages, welcher das Blut heiß in den Adern der Jünglinge und Mädchen fließen läßt, vorgestellt. Mohammad ben Ahmad Hinti aber, dem umherziehenden Händler, der mit seinem abgewetzten, zerschlissenen Fell bedeckt auf dem Boden der staatlichen Ambulanzstation lag, kam die Geschichte der Vergewaltigung wieder in seinen Sinn, wobei wir uns der Ausdrucksweise des Feldwebels insoweit nähern wollen, daß wir es Vergewaltigung nennen, ihm kam also jene Geschichte wieder in den Sinn, doch anders, als sie sich die Anwesenden an Richter, Arzt und Polizeioffizieren vorstellten. Ist es dieselbe Geschichte, die der Feldwebel der Wüstenwacht erzählt hatte oder ist es eine andere Geschichte?

Mohammad ben Ahmad Hinti kann nicht, trotz der Bewußtheit, die ihn aus der Ohnmacht des Schmerzes, des Blutverlustes, der Bauchfellentzündung und der Reise von einhundert fünfzig Kilometern durch den Staub der Steppe und die Kälte der Nacht befreit hat, Mohammad ben Ahmad Hinti kann trotz seiner Bewußtheit, die ihn aus jener Ohnmacht befreit hat, nicht unterscheiden zwischen dem in der Geschichte des Wüstenwacht-Feldwebels Gehörten, und jenem, was er sich selbst über das Märchen der Vergewaltigung zu berichten weiß. Es gab da ein Durcheinander in der Aneinanderreihung der Geschehnisse, sowie ein Vermischen der darin vorkommenden Personen beider Berichte, eine Gleichheit und eine Unterschiedlichkeit, daß Mohammad ben Ahmad Hinti in seiner Schwäche, in seinem Niedergestrecktsein, dem wenigen seine Gehirnwindungen erreichenden Blut, dem Wärmeschwund dieses Blutes und der Schnelligkeit seines Fließens in seinen Adern, daß er durch all dieses nicht mehr die Kraft besitzt, die Beziehung der beiden Geschichten zueinander und ihre jeweilige Stellung zur wahren Wirklichkeit zu erkennen. Mohammad ben Ahmad Hinti wünschte sich, aufstehen zu können, nachdem der Feldwebel mit seiner Berichterstattung fertig war, und ihm zu sagen: Halt ein, und höre meine Darstellung! ...um dann mit dem berichten in klarerer Form, in genauerer Kenntnis und mit reichhaltigeren Einzelheiten fortzufahren. Doch Mohammad ben Ahmad Hinti war nicht in der Lage dies zu tun oder zu sagen; alles, was er schafft, ist sich den Bericht selbst vorzutragen, in den Tiefen seines Gefühls, doch vielleicht war es auch der Bericht selbst, der sich ihm, von sich aus, selbst vortrug, und dem wir hier folgen, um ihm dem Leser dieser Seiten zu erzählen.

Ja, die Jahreszeit war Frühling, und die Tageszeit nahe dem Sonnenuntergang. Doch dies passierte nicht in der Steppe, sondern in einer engen Gasse des Bab-el-Nirab Stadtviertels oder in einer kleinen Straße am Rande jenes Stadtteiles von Aleppo. Zu jener Tageszeit und in einer engen Gasse wie dieser war die Dunkelheit eher dazu in der Lage, Menschen und Dinge zu erkennen als das Licht; es gab der Hindurchgehenden nur wenige, und die Stille hatte sich ausgebreitet. Mohammad ben Ahmad Hinti befand sich auf seinem Weg nach Hause, zurückkehrend aus jenem Korn-Khan, in welchem er als Lagerverwalter tätig war, und er hatte sich schön gemacht, in dem er seine Schnurrbartspitzen gezwirbelt, seinen ,Tarbusch' schräg über seine Stirn geschoben und den breiten Stoffgürtel über seiner Mitte zurechtgerückt hatte, von welchem die glänzend gelbe Kette der billigen Uhr herabhing, die in eine der Falten jenes Stoffgürtels gesteckt war. Mohammad ben Ahmad Hinti schritt auf seinem Weg durch jene Gasse nur langsam vorwärts, während seine Augen auf ein enges rundes Fenster in Höhe einer Mauer auf seiner rechten Seite gerichtet waren. Denn aus diesem Fenster zeigten sich ihm jeden Abend die weiten Augen von Rakkusch, die ihn hinter einer fortgesetzten Reihe dichter Vorhänge empfingen: die dicke, hohe Wand mit ihren glatten, fugenlosen Steinen, die das kleine Fenster erstickten, und der bräunliche Vorhang, welcher die Fensteröffnung zudeckte, ähnlich der Hand eines Verbrechers, die das Atmen eines kleinen Kindes unterdrückt. Und wenn nun Rakkusch das Ende dieses Vorhangs mit den Fingern ihrer schlanken, mit Henna gefärbten Hand beiseite schob, so blieb noch ein weiterer, dunkler Vorhang, nämlich der Rest ihres schwarzen Schleiertuches, welcher alles, was unterhalb ihrer weiten Augen von ihrem schönen Gesicht noch da war, bedeckte.

Doch trotz all dieser aufeinander folgenden Vorhänge befand sich Mohammad ben Ahmad Hinti an jedem Abend auf dem Gipfel seines Glücks, wenn er das Licht sah, das aus den schwarzen Augen von Rakkusch strahlte, die Dunkelheit des Sonnenunterganges, die Dunkelheit der Gasse, die Dunkelheit des schwärzlichen Vorhangs und die des schwarzen Schleiertuches durchdringend. An jedem Abend - außer an diesem Abend, denn seine Augen suchten heute vergeblich den Lichtstrahl im geschlossenen Fenster auf der Höhe der Mauer; doch kein Leuchten zeigte sich ihm. Er fühlte die Trauer seine Brust erfüllen. Die Dunkelheit des Fensters schloß sich um sein Herz. Doch sein Leiden währte nicht lange, eine Überraschung erwartete ihn vor der Tür des Hauses, in welchem Rakkusch wohnte. Als er nämlich auf der Höhe jener Tür angekommen war, sah er ihre beiden Flügel sich öffnen, vor einer schlanken, weichen Figur, eingehüllt in einen schwarzen Schleier, über dem zwei weite Augen aus der Mitte einer schmalen Mondsichel aus weißer Haut mit rosigem Schimmer hervor blitzten, welche ein Teil von Rakkuschs leuchtendem Antlitz war, gesäumt vom Käppchen des schwarzen Schleiertuches auf der Stirn und von dem Ende jenes Schleiertuches, das das Mädchen mit ihrer Hand festhielt, aus ihm einen Schleier für ihr Gesicht machend. Dieses war - wie wir sagten - eine Überraschung, wie sie Mohammad ben Ahmad Hinti noch niemals widerfahren ist. Und so ist es auch nicht verwunderlich, daß er fühlte, wie sein Herz begann, kraftvoll gegen die Mauer seiner Brust zu schlagen, als wolle es seinen Rippen entwischen. Auch verweigerten sich ihm seine Beine und gehorchten ihm nicht mehr beim Gehen, und seine Zunge stammelte so, daß er zu nichts anderem mehr fähig war, als mit rauher, von seinem trockenen Hals fast nieder gewürgter Stimme zu sagen:

- Du?

Zwar bekam er auf seine Frage keine hörbare Antwort, doch er sah die Hand, die das Ende des schwarzen Schleiertuches hielt, vor einem runden, vollmondigen Gesicht herunterfallen, er sah die beiden rosigen Wangen, die einen Mund mit geöffneten Lippen umfaßten, und er sah die beiden Türflügel, so, als würden sie ihn rufen. Er bemerkte sein Tun erst, als er bereits hinter dieser Tür war, um ihn herum die massive Erscheinung des Hauses, und sich an einen üppigen jungen Körper drückte, dessen Wärme er spürte, wie sie durch ihre und durch seine Kleider drang, und er auch fast das Rasen des Blutes in ihren Adern fühlte, im Wettrennen mit dem Blut in seinen Adern.

Das, was Mohammad ben Ahmad Hinti an diesem Abend widerfuhr, hatte noch nie zuvor in diesem Teil dieser Gegend dieser Stadt stattgefunden. Oder vielleicht hatte es früher schon stattgefunden, es mußte sogar schon viele Male stattgefunden haben, doch die Leute hörten nichts darüber und erzählten es sich nicht untereinander. Aus diesem Grund befand sich Mohammad ben Ahmad Hinti in einer Mischung aus Verwirrung und Freude, aus Glück und Angst, und war auch nicht mehr fähig, viel über seine Lage nachdenken zu können. Altes, was er aus den wenigen Worten verstand, die ihm die Stimme von Rakkusch zuflüsterte, war, daß ihre Familie aus Frauen und Kindern im Badehaus sei, daß sie selbst auch dort mit ihnen zusammen gewesen war, daß sie dann aber noch vor jenen zurückgekehrt sei, um ihrer gelähmten Großmutter beiseite zu stehen, und daß dies nicht die Stunde der Rückkehr der Männer in das Haus sei, daß sie Angst habe und daß er dies nicht hätte tun dürfen, einfach hereinkommen...

Doch Mohammad ben Ahmad Hinti war bereits hereingekommen ...wenn also im Haus niemand außer einer blinden, tauben Greisin war, und wenn die Männer jetzt nicht zurückkommen würden, warum ängstigte sie sich dann? Hier schmiegte sich der Körper des Mädchens enger an ihn, wodurch das Blut in den Adern seines Kopfes überschäumte. Am Anfang hatte er, mit den Fingern seiner Hände ihre Schultern umfassend, einen seltsamen Genuß dabei empfunden, die Innenseiten seiner Finger in das volle Schulterfleisch zu versenken. Doch seitdem er die beiden Kugeln ihres Busens an seine Brust drücken fühlte, und seitdem der warme Geruch des Haaröls seine Nase füllte, das Bild des nackten Leibes der Frau auf den Bodenplatten des Badehauses liegend mit sich tragend, seitdem Mohammad ben Ahmad Hinti dies spürte, verlor er den Genuß aus seiner Brust, und an dessen Stelle tobte nun die Wollust, in seinem Blut einen Orkan entfesselnd. Alles, was danach von seinen Lippen kam, worüber seine Zunge erzählte, und was seine Glieder an Bewegungen ausführten, geschah ohne seinen eigenen Willen, und ohne ihm zu Bewußtsein zu kommen, geschah allein durch den Willen jener stürmenden Wollust, von ihm als Feuer empfunden, aufflammend in den Arterien seiner Schläfen, sein Rauschen bei jedem Herzschlag in seinen Ohren hörend. Seine Augen waren auf das runde Gesicht von Rakkusch geöffnet, dessen Rosa sich zu einem dunklen Rot gewandelt hatte, mit leicht bläulichem Einschlag jedes Mal dann, wenn sie ihren Atem anhielt, um in todesmutiger Anstrengung zu versuchen aus jener Umarmung zu entkommen, in welcher er sie mit seinen Armen und Beinen umschlungen hielt. Ihre Halsschlagadern unter der milchweißen Haut ihres Halses traten wie bläuliche Schnüre hervor, sobald sie ihre Atemstöße unterdrückt, worauf sie im nächsten Moment wieder weich wird und mit heiserer Stimme ihren weinenden, bittenden, unwilligen Schrei ausstößt: Ich will nicht... ich will nicht...

Die Gesichtsausdrücke des Mädchens, das Gestöhn, welches sie von sich gab, und die Verkrampfung ihrer Glieder, all das bedeutete, daß sie wirklich nicht wollte. Doch Mohammad ben Ahmad Hinti war nur noch ein Verlangen ausdampfender Körper, sich todesmutig dafür aufopfernd, den anderen Körper zu besitzen und ihn umhüllend zu umarmen. Oh, welch ein Kampf, von dem Mohammad ben Ahmad Hinti dachte, er würde nie enden ... wenn er nicht plötzlich gespürt hätte, wie der Leib des Mädchens gerade in jenem Moment, von welchem er annahm, er sei der Gipfel ihres Unwillens, zwischen seinen Händen zusammenfiel und nur noch ihr Kopf blieb, von dessen nußbraunem geglätteten Haar ihr schwarzes Schleierkäppchen herabfiel. Es blieb nichts als dieser Kopf, bewegt von den Resten eines inneren Kampfes dessen Feuer nun am Erlöschen war, während der weibliche Leib der Männlichkeit des Mohammad ben Ahmad Hinti die Zügel überließ.

Alles, was von jenem Kampf im Verstand des Mohammad ben Ahmad Hinti übrig geblieben war, war seine Verblüffung über die Hingabe jenes Körpers an ihn, nach all dieser unbändigen Aufwallung. Ob er wohl Genuß verspürt hat in jener Stunde? Vielleicht, aber jetzt, in seinem Bett aus Bodenkacheln der staatlichen Ambulanzstation, wiederholt und wiederholt er in seinem Geist - wie ein Fiebernder, der in seinem Irrereden einen Satz wieder und wieder sagt, ohne ihn zu ändern - seine Verblüffung über die Hingabe der Rakkusch und ihr Gehorchen ihm gegenüber; warum hatte sie ihm all diesen Unwillen gezeigt, wo sie doch all jenes Verlangen besaß? Und dies nennen sie dann Vergewaltigung!

Als Mohammad ben Ahmad Hinti in seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, öffnete er seine Augen. Denn alleine, daß er in seinem Denken eine derart komplizierte Ebene erreichen konnte, gilt als Zeichen dafür, daß er einen nicht zu kurzen Weg im Bewußtsein zurückgelegt hatte. Die Meinung des Arztes lautete, daß der Verwundete in der Lage sei, die Fragen des Richters zu beantworten, sofern diese kurzgefaßt wären. Das erste, was der Richter von Mohammad ben Ahmad Hinti wissen wollte, war, ob dieser seinen Angreifer gesehen hätte, als jener das Feuer auf ihn eröffnete. Als daraufhin Mohammad ben Ahmad Hinti mit seinem Kopf ein Ja andeutete, sagte der Richter:

- Kannst Du diesen Mann erkennen, wenn Du ihn siehst?

Und von der Zunge des Mohammad ben Ahmad Hinti ertönte ein schwaches Ja. Es zeigte immerhin, daß dieser stark genug ist, verstehen und unterscheiden zu können. Und so wies der Richter den Feldwebel der Wüstenwacht an, M'eschar zu holen, während Mohammad ben Ahmad Hinti seine Augen schloß, als hätte jener lächerliche Moment seine Kräfte verzehrt und ihn wieder in seine Ohnmacht zurückgetrieben. Richtig ist jedoch, daß Mohammad ben Ahmad Hinti nicht in seine Bewußtlosigkeit zurückkehrte, sondern zu seinen Gedanken. Ja, er kennt den Bruder von Rakkusch sehr gut. Wie soll er ihn nicht kennen, wo er ihn doch täglich sah und traf, wenn nicht auf dessen Weg aus der tiefen Tür in jener hohen Wand herauskommend, so doch in dessen Werkstatt. Ein mittelgroßer Jüngling, leicht gebeugt von seiner Arbeit an der Hobelbank und von seinem Hocken auf den Holzschachteln, die er für die Hirten herstellte, in seinem gestreiften langen Überhemd und seinen roten Schuhen, in der Brusttasche ein Federmesser mit sich tragend. Mohammad ben Ahmad Hinti wundert sich, wie ihn Sattuf, welcher ihr Bruder ist, mit einer Kugel in der Steppe erwischen konnte, wo es ihm doch freigestanden hatte, mit einem Schlag seines Federmessers seine Brust zu zerfetzen, die Brust des Mohammad ben Ahmad Hinti, entweder auf dem Weg zum Bab-el-Nasr oder bei seinem Herauskommen aus einer der Spelunken der Bad-el-Faraj-Gegend. Wo doch er, Mohammad ben Ahmad Hinti, wegen nichts anderem seinen Wohnort und seine Arbeit aufgegeben und seinen neuen Beruf als umherziehender Händler hinter zwei Eseln in der Al-Zeidi-Steppe ergriffen hat, als um das Zusammentreffen mit Sattuf in seiner Stadt zu vermeiden; wie hatte es dieser vermocht, seinen Spuren bis hierher zu folgen? Für Mohammad ben Ahmad Hinti ist dies ein neues Rätsel, ähnlich dem Rätsel der plötzlichen Hingabe von Rakkusch an seine stürmende Männlichkeit an jenem Abend... doch diese Herren überlassen Mohammad ben Ahmad Hinti nicht seinen verwirrenden Rätseln und widersprüchlichen Gedanken, und so hört er einen von ihnen rufen:

- Oh Mohammad...

Mohammad ben Ahmad Hinti öffnete seine Augen, worauf ihn der Richter, auf M'eschar zeigend, fragte:

- Mohammad, kennst Du diesen Mann?

Mohammad ben Ahmad Hinti schwieg, schwieg lange, wobei seine Augen ohne zu blinzeln, fest auf das Gesicht des Beduinen-Jünglings gerichtet waren, auf dessen schmale Gesichtszüge, die scharf geschnittene Nase, das Gesicht umrahmt von einem leichten Bart, umflossen von den schwarzen Locken seiner Haare. Und vielleicht wollte der Richter Mohammad ben Ahmad Hinti helfen, denn er fragte den Beduinen:

- Bist Du M'eschar ben Thubban?

- Ja.

- Hast Du eine Schwester namens Subha?

Der Blick in den Augen des Beduinen verhärtete sich, und er gab keine Antwort. Der Richter wiederholte seine Frage:

- Sag, oh M'eschar, hattest Du nicht eine Schwester namens Subha? Und wo ist sie jetzt?...

Hier schloß Mohammad ben Ahmad Hinti seine Augen, um zu sich selbst zu sagen: Was habe ich mit Subha zu tun... dies ist nicht Sattuf. Vielleicht ähnelt dieser Beduine jenem, der von der Ruinenseite herabgestiegen kam, aber ich kenne ihn nicht, und er kennt mich nicht, vielleicht dachte er, ich sei ein anderer umherziehender Händler... ich aber bin sicher, daß er nicht ein Bruder von Rakkusch ist...

Der Puls des Mohammad ben Ahmad Hinti hatte einhundertsechzig Schläge in der Minute erreicht, als ihn die Händler aus Aleppo zu dem kleinen Auto trugen und hineinlegten, um mit ihm das Krankenhaus von Aleppo zu erreichen. Dies veranlaßte den Arzt dazu dem Richter zu sagen, daß die Meinung eines Menschen in diesem Zustand von Schwäche, Fieber und Bauchfellentzündung und auch sein Leugnen, M'eschar gesehen zu haben, nicht die Unschuld des Beduinen gegenüber dem Verdacht, ihn angegriffen zu haben, bedeute. Mohammad ben Ahmad Hinti selbst aber begann in eine tiefe Ohnmacht zu sinken, träumend, er würde die Steppe auf einem riesigen Lastwagen durchqueren, über einem Berg von Weizensäcken, umhüllt von der Kälte der Nacht, über ihm die glänzenden Sterne, und um ihn herum wallt der Staub auf, roter, klebriger Staub, der sich um seine Nasenöffnungen auftürmt und auf seinen Lippen, und der seinen Atem Stück für Stück erstickt. Mohammad ben Ahmad Hinti versuchte vergeblich, sich von diesem erstickenden Staub zu befreien, denn seine Hände waren festgebunden, und auf ihnen und auf seiner Brust hockte Sattuf, wie auf den Holzschachteln hockend, die er für die Hirten herstellte, in jenem Laden mit seiner tiefen Decke, in jenem engen und dunklen Bazar, in jenem Stadtteil von Aleppo...


Erschienen in: Zeitschrift für Kulturaustausch Nr. 3, 32. Jg. 1982/3. Vj., Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart


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