Tschernobyl
Von Achmed A.W. Khammas, Damaskus
Ich hatte einen Traum.
Es war der 27. April 1986 und ich schaute fern.
Der Parteichef der UdSSR hielt eine Rede.
Seltsamerweise erschien sein Gesicht gleichzeitig auf allen Kanälen.
Seine Stimme klang besorgt - doch ich verstand kein Wort.
Plötzlich erschienen Untertitel auf dem Bildschirm.
Ich las...
...mitteilen, daß wir über die Vorgänge tief erschüttert sind. Seit heute morgen wird alles versucht, die Katastrophe in Grenzen zu halten. Jenes Feuer, das wir für den Frieden UND für die Erhaltung des Friedens durch ein ‘atomares Gleichgewicht’ dachten gezähmt zu haben, ist in aller Wildheit über uns hereingebrochen. Die bisherigen Kriege waren dagegen Sandkastenspiele - während wir jetzt versuchen, durch das Abwerfen von Tonnen an Sand und anderen Materialien das atomare Wüten zu dämpfen. Zehntausende unserer Mitbürger sind durch die Strahlung schon betroffen, stündlich werden es mehr. Nur durch den vollen Zusammenhalt unseres Volkes läßt sich noch Schlimmeres verhüten.
Doch allen Menetekeln zum Trotz ist keine Panik ausgebrochen, im Gegenteil! Seitdem wir am heutigen Vormittag den tragischen Unfall bekanntgegeben haben, erreichen uns ununterbrochen Anrufe und Telegramme von Brigaden aus allen Teilen des Landes, die sich für freiwillige Rettungseinsätze melden - wohl wissend, daß ihr Einsatz lebensgefährlich sein kann.
Genossinnen und Genossen! Ihr Menschen überall auf diesem Planeten...
Wo immer ihr auch seid, ihr werdet von dem Unglück in Tschernobyl mitbetroffen sein, über kurz oder lang.
WIR hatten Glück - jawohl! Denn unser zerschmolzener Reaktor liegt nicht fast mitten in Stadtgebieten, wie man es zum Beispiel aus der Bundesrepublik Deutschland kennt. Seit gestern WISSEN wir nämlich, daß nach 30 Kilometern im Umkreis die Strahlung NICHT haltmacht, wie es uns die Wissenschaftler auf ihren Plänen so schön gezeigt hatten. Wir werden riesenhafte Verluste haben, direkte und indirekte.
Und trotzdem hatten wir Glück. Wir hatten auch deshalb Glück, weil es bei uns nicht so ist, wie in Frankreich. Denn dort stehen die Kernkraftwerke nahe der Grenzen - was brisante internationale Konflikte mit sich brächte. Oder Belgien! Das kleine Belgien besitzt ACHT Kraftwerke, da passen nicht einmal mehr die besagten 30 Kilometer dazwischen. Nur gut, daß alle jene noch mehr Glück hatten als wir - bisher.
Sie sagen, wir hätten die schlechteren Reaktoren. Das mag vielleicht stimmen, aber sie funktionierten immerhin über Jahre hinweg recht gut... und an die Unfälle bei sogenannten ‘absolut sicheren’ Systemen muß ich wohl nicht extra erinnern - der Rauchball über Cap Canaveral ist uns allen noch gegenwärtig, ebenso wie die vielen Beinahe-GAUs, welche im Westen nur allzu oft verschwiegen wurden.
Doch das führt alles viel zu weit.
In diesen Minuten werden überall in der Union der Sowjetrepubliken zwei Dinge getan, die in die Geschichte eingehen werden - sofern uns allen noch eine Geschichte verbleibt.
In der Ukraine kämpfen unsere Helden gegen einen tödlichen, unsichtbaren Feind, der kein Erbarmen kennt. Und in allen Sowjetrepubliken werden im Laufe des heutigen Abends die Kernkraftwerke abgeschaltet!
Genossinnen und Genossen! Ich spreche hier eure Vernunft und eure Solidarität an: Rationiert SELBER euren Energieverbrauch! Wir werden keine Stromabschaltungen vornehmen müssen, wenn jeder ein wenig zurücksteckt. Es ist nur sehr wenig im Vergleich zu dem Vielen, was unser Volk alles schon geleistet hat. Und dennoch ist es gerade heute lebenswichtig für uns alle. Wir müssen zusammenhalten. Denn Tschernobyl hat uns gelehrt, daß sich der Geist sehr wohl aus der Flasche befreien kann, wenn man nur einmal nicht genug aufpaßt. Doch dieser ‘Geist’ ist nichts anderes als der Tod. Oder - wenn man die Verseuchung von Generationen der Zukunft mit berücksichtigt - er ist schlimmer als der Tod.
Die Partei hat auf ihrer heutigen Notstandssitzung aber nicht nur das sofortige Ausschalten aller Atomanlagen beschlossen, sondern einen noch viel größeren und wichtigeren Schritt getan. Marx und Lenin hätten sich vor dem Mut und der Konsequenz unserer Generation verbeugt, denn noch nie waren wir dem raealen Kommunismus näher als heute.
Dies beantwortet auch die Frage, warum diese Rede weltweit ausgestrahlt wird. Sie soll der unreinen Strahlung unseres zusammengebrochenen Kernkraftwerkes entgegenwirken. Und dies ist keineswegs symbolhaft gemeint. Es stimmt! Wir haben lange Jahre mit sogenannten Tesla-Waffen experimentiert. Auch mit Lasern und ähnlichem. Doch die Resultate waren nicht immer besonders ermutigend. Wir konnten mit dem ‘Specht’ zwar den gesamten Funkverkehr der Nordhalbkugel stören, doch unseren eigenen davon nicht ausnehmen. Wir konnten Wetterabläufe beeinflussen, doch dann regnete es auch bei uns nicht mehr. Langsam setzte sich daher auch bei uns die Idee eines wirklich kleinen und engen Planeten durch, auf dem wir alle zusammen leben. Und wir zogen die Konsequenz. Als einzige ‘Wunderwaffe’ behielten wir das System, das in diesen Stunden angewandt wird, um allen Menschen auf diesem Planeten unsere Informationen direkt und unzensiert zukommen zu lassen. Und so will ich der Welt mitteilen, was der zweite Beschluß unserer Partei beinhaltet!
Genossinnen und Genossen! In diesen schicksalhaften Stunden müßt Ihr der ruhmreichen Partei euer absolutes Vertrauen schenken.
Nach Tschernobyl wird es in der Sowjetunion und später auch in unseren sozialistischen Bruderstaaten keine Atomenergie mehr geben... und es wird nach Tschernobyl auch keine ATOMWAFFEN mehr bei uns geben. In wenigen Tagen werden wir - diesmal aber voller Trauer um die Opfer des Unglücks - zusammen den 1. Mai feiern. Es soll dies der Anlaß sein, daß alle, ja - ich wiederhole - ALLE unsere Atomwaffen demontiert werden.
Habt vertrauen! Wenn die Vereinigten Saaten nun mit ihrem ‘Erstschlag’ über uns herfallen, so werden wir uns verteidigen, aber wir werden nicht mehr atomar antworten können. Doch die ganze Welt wird auf unserer Seite sein - und das wäre letztlich auch das Ende der USA. Um uns innerlich und an unseren Grenzen zu schützen, werden wir die konventionellen Waffen vorerst behalten. Aber nach Tschernobyl darf es keine weiteren atomaren Unglücke ziviler ODER militärischer Natur geben. Wir wissen, daß auch das amerikanische Volk diese Ansprache hört. An dieses richte ich daher meine Abschlußworte - und an unsere Genossen in China:
Wir geben freiwillig auf! Wir wollen unsere Kräfte in Zukunft auf die Entwicklung unserer Landwirtschaft und Industrie konzentrieren, auf neue Erfolge in der Forschung und auf das Gebiet der zivilen Raumfahrt. Wir werden keine neuen Atomwaffen bauen und sind bereit, jede internationale Kontrolle darüber zu akzeptieren. Nie wieder sollen unschuldige Kinder dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt werden. Wenn wir damit falsch liegen, so greift uns an, vernichtet uns. So oder so werden wir trotzdem die Sieger bleiben. Denn wir haben hier und heute gesiegt, angesichts der ungeheuerlichsten Gefahr, die die Menschheit bislang je heraufbeschworen hat.
Wir haben gesiegt - dank Tschernobyl.
An dieser Stelle wachte ich auf.
Vollkommen klar, ein Traum.
Denn ich habe in Wirklichkeit ja gar keinen Fernseher...
Heute ist der 1. Mai 1986, die radioaktive Wolke hat die syrische Küste erreicht.
Es regnet.
Damaskus, im Juni 1986 (leicht überarbeitet 2002, 2008)