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Das Wappen der Familie Khammas

Michaela wacht

SF Kurzgeschichte von Ghassan Homsi, Damaskus

Übersetzt von Achmed A. W. Khammas, Berlin

 

Der 83jährige Otto betritt sein Appartement. Im Korridor hängt er seine Jacke sorgsam über einen Bügel.

Während er den Wohnraum betritt, geht automatisch der große Flachbildschirm an, der auf einer beweglichen, schmalen Konsole montiert ist. Ein freundliches Gesicht fragt: "Hallo Otto! Alles in Ordnung?"

Das Gesicht gehört einer virtuellen jungen Frau, ihr helles Kostüm erinnert an eine Kreuzung zwischen Stewardeß und Krankenschwester. Der Hintergrund ist in einem tiefen Meerblau gehalten. Manchmal ist so etwas wie Meeresrauschen zu hören, aber nur sehr leise.

Otto ächzt, er läßt sich erschöpft in seinen Lieblingssessel sinken.

"Du hast zwei Anrufe bekommen, außerdem hat sich Dr. März gemeldet, er würde sich gerne nächste Woche mit Dir unterhalten" - die Stimme wartet geduldig auf eine Antwort.

"Wer hat angerufen?"

"Soll ich es Dir vorspielen? Ich habe beide Anrufe aufgezeichnet."

"Nein-nein, nicht jetzt. Sage mir nur, wer es war."

"Der eine Anruf kam von Deiner Tochter Marlies. Die andere Person ist mir leider nicht bekannt - es ist ein Mann, aber er hat keinen mir bekannten Namen genannt."

Otto horcht auf. Inzwischen hat er sich auch schon wieder etwas erholt. Schließlich hält er noch immer seinen täglichen einstündigen Marsch durch - quer über das gesamte Gelände, die Einkaufsstraße hoch, dann das Ufer entlang und hinter dem kleinen Flußhafen wieder zurück zu dem Appartement-Block, in dem er seit acht Jahren seine Wohnung hat.

"Spiele mir bitte den zweiten Anruf vor."

Zu spät merkt er, daß er schon wieder ‘bitte’ gesagt hat, dabei redet er schließlich nur mit einer Maschine, auch wenn diese ein so freundliches und hübsches Gesicht hat. Aber im Laufe der Jahre, in denen er sich zunehmend auf die Dienste eben dieser Maschine verlassen hat, bröckelt seine Abwehr immer mehr.

Eigentlich war es nur seine sprichwörtliche Dickköpfigkeit, die ihn zu Anfang gleich hat sagen lassen, daß diese komische VR-Hostess ruhig zum Teufel gehen könne - er würde sich nie auf solch eine kindische Sache einlassen! Doch inzwischen hatte er sich schon so an ihre unaufdringliche Präsenz gewöhnt, daß er sie nicht mehr missen will - auch wenn er dies offiziell niemandem gegenüber eingestanden hätte.

Jetzt hatte er doch wirklich den Anfang verpaßt, und die Stimme sagt auch ihm nichts. Langsam bemerkt er aber, um was es hier geht. Der Anrufer will Otto etwas verkaufen - und daran hat dieser nicht das geringste Interesse.

"Löschen!" befiehlt er knapp.

"Soll ich diesen Anruf löschen?" vergewissert sich das System.

"Ja, der Kerl will mir was andrehen. Wenn er sich noch einmal melden sollte, kannst Du seinen Anruf gleich an die Beschwerde-Stelle weiterleiten... sollen die sich mit ihm befassen!"

Irgendwie war diese ganze Elektronik ja doch zu was nütze. In seinen jungen Jahren war er Funker auf einem Obstfrachter gewesen. Damals war das ‘high-tech’ gewesen, und alle haben ihn bewundert, wenn er von seinen Geräten und den Funksprüchen quer über den Erdball geredet hat. Heutzutage kann das im Prinzip jedes Kind per Internet. Aber einfach dem Anrufbeantworter so eine Anweisung zu geben und sicher zu sein, daß er sie auch haargenau so ausführen würde... manchmal grenzte das schon an Zauberei!

Immerhin würde das System die Stimmprobe des unbekannten Anrufers bei jedem weiteren, nicht vorab identifizierten Anruf, zum Vergleich heranziehen. Und wehe, es paßte. Dann würde sich eine virtuelle Stimme als Otto ausgeben, und den Anrufer um sein Angebot bitten - und ihn insgeheim gleichzeitig an einen von realen Personen besetzten Counter weiterleiten. Dort würde man überprüfen, ob sich der Anrufer unlauterer Vertriebs-Methoden bedient und ihm auf jeden Fall den ausdrücklichen Wunsch Ottos, nicht weiter behelligt zu werden, in juristisch akkurater Form kundtun.

Die berührungslose Meßtechnik teilt dem System die Temperatur der Füße und andere Parameter mit, welche es zu dem (richtigen) Schluß gelangen lassen: "Otto, ich glaube, Du hast Dir Deine Schuhe noch nicht ausgezogen. Dabei hast Du gestern selber zugegeben, daß Du Dich ohne sie hier in der Wohnung viel wohler fühlst."


"Ja-ja, Du bist schlimmer als meine selige Mathilde... ich mach’ ja schon."

Er wurde aber auch wirklich von Tag zu Tag vergeßlicher. Zuerst hatte er sich noch einen Wecker stellen müssen, der ihn an die regelmäßig einzunehmenden Medikamente erinnern sollte. Darum brauchte er sich heute nicht mehr sorgen. Das System besaß alle medizinischen Informationen über ihn, es erinnerte ihn an die Medikationen und an die Arzttermine, es verwaltete sein Adreßbuch und wählte die Nummern für ihn, es kontrollierte seine Finanzen und ... ja, schließlich hatte er sich doch dazu durchgerungen: Es tippte sogar für ihn beim Lotto!

 

Zwar hielt es sich weitgehend an seine Lieblingszahlen, doch zwei Tips pro Woche entstammten dem systemeigenen Zufallsgenerator. Und wie hat er letztlich gestaunt, als er einen Vierer gewann - mit einer Kombination aus der Maschine!

"Willst Du nicht den Anruf Deiner Tochter hören?"

"Ah... hatte ich schon wieder vergessen. Ja, spiel ab...."

Die Stimme von Marlies füllt den Raum und erwärmt sein Herz. Seine einzige Tochter hat ihm schon zwei Enkelkinder geschenkt, deren Fotos immer auf seinem Nachttisch stehen.

"...wir haben uns also überlegt, Dich am Freitag abzuholen. Am Sonntag Abend oder Montag früh würde ich Dich dann wieder zurückbringen. Was hältst Du davon? Die Kinder würden sich riesig freuen... also, gib uns schnell Bescheid, ja?!"

Otto zögert etwas und befiehlt erst einmal den aktuellen Wetterbericht und die Prognosen der nächsten Tage auf den Schirm. Das freundliche Gesicht grinst und ermutigt ihn.

Also ruft Otto seine Termine ab; oh ja, er muß den Skat-Abend verschieben. Sicherheitshalber sagt er es laut, so daß ihn das System später noch mal daran erinnern kann (oder sollen wir statt System nicht endlich ‘Michaela’ sagen? - denn so hieß die erste große Liebe Ottos, und entsprechend dieser Erinnerung hat er sich ja auch das ‘Gesicht’ auf seinem Bildschirm zusammenstellen lassen...).

Im Laufe des Nachmittags bekommt Otto aber noch mehr zu tun.

Die vierte Schulklasse meldet sich wieder, denen er vor einigen Wochen einen Vortrag über seine Funker-Zeit gehalten hat. Begeistert hatten sie seinen Erzählungen gelauscht, obwohl sie sich gegenseitig nur auf dem Bildschirm, gesehen haben. Aber vielleicht wirkt das bei diesen Kindern ja sogar besonders authentisch? Und jetzt fragen sie plötzlich nach der Gefahr von Funkwellen... Als ob er darüber auch nur das geringste wüßte.

Trotzdem gibt er ‘Michaela’ die Anweisung, ihn Online zu schalten. Er muß wieder grinsen, denn vor einigen Jahren hatte er sich noch mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, solche komischen modernen Worte auch nur wahrzunehmen... und inzwischen?! Auch er war jetzt eine Art Weltbürger. Immerhin war die Schulklasse aus Österreich, kein Wunder also, daß sich die Kinder das Meer besonders abenteuerlich ausmalten...

Der Lehrer hatte einen breiten steirischen Dialekt, war sehr freundlich und äußerst aktiv, Wissensschätze zu heben und seinen Schülern zu vermitteln. In Otto hatte er einen solchen Schatz gefunden - und gehoben. Für die Kinder wirkte er wie ein gutmütiger Zeitreisender, den man mit seinen Fragen löchern konnte.

 

Daß Otto über Elektrosmog nichts weiß, ist kein Problem, meint der Lehrer. Nach kurzer Recherche kontaktieren die beiden einen ehemaligen Leutnant der Bundeswehr, der Krebs hat und einen Prozeß führt, weil er früher starken Radarstrahlungen ausgesetzt war. Sein Gutachter hätte dafür plädiert.

Man verabredet sich zu einem gemeinsamen Video-Chat. Otto vertritt die Ansicht, daß das Radar viel stärker ist als ein Funksender - und daß dort die Antenne auch viel näher am Menschen dran ist, als beim Schiff. Die Kinder sind zwar etwas überfordert, nichts desto weniger aber weiterhin sehr interessiert. Daß man seine Erfahrungen schätzt, gibt ihm ein gutes Gefühl – und nebenbei wird seine Neugier immer wieder geweckt. Und so läßt sich Otto am Abend von Michaela noch einige einschlägige Artikel besorgen, in die er sich dann vertieft.

Doch erst einmal bekommt Otto Hunger. Auf Nachfrage sagt ihm Michaela, was im Kühlschrank ist, und was er sich daraus selbst schnell machen könnte. Sie sagt aber auch was es in der Küche gibt (die eigentlich Hausrestaurant heißt) – und das klingt auf jeden Fall verlockender.

Nun läßt er nach seinem Freund Manfred suchen, doch der ist noch einkaufen. Otto hinterläßt ihm eine Nachricht, und als er kurz darauf zurückgerufen wird, verabreden sich beide und gehen zusammen zum Essen.

Am Abend schaut sich Otto zuerst die von Michaela beschafften Artikel zum Thema E-Smog an, dann zappt er weltweit etwas im Internet-TV herum. Heute sind dort ja wirklich alle Radio- und TV-Sender zu finden - in exzellenter Qualität und auf Wunsch sogar mit automatischen Übersetzungssystemen gekoppelt, die allerdings manchmal den verrücktesten Mist zusammenbrauen.

 

Otto ist inzwischen Fan von Nepal-TV, die Musik der Mönche berührt etwas in ihm, das er bislang noch nicht genau identifizieren konnte. Er wird doch auf seine alten Tage nicht noch Buddhist werden...??

Otto wird langsam müde, er bestellt sich den Film ‘Das Wirtshaus im Spessart’ mit Lieselotte Pulver, in die er damals arg verknallt war, und schläft mittendrin ein.

Michaela empfängt seine Daten, bemerkt den Schlaf, stoppt den Fernseher und weckt ihn kurz auf, bevor er die REM-Phase erreicht.


Otto zieht sich aus und geht zu Bett.

 

Michaela wacht.


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