SF
Kurzgeschichte von Ghassan Homsi, Damaskus
Übersetzt
von Achmed A. W. Khammas, Berlin
Der
83jährige Otto betritt sein Appartement.
Im Korridor hängt er seine Jacke sorgsam über
einen Bügel.
Während er den Wohnraum betritt, geht automatisch
der große Flachbildschirm an, der auf einer
beweglichen, schmalen Konsole montiert ist. Ein
freundliches Gesicht fragt: "Hallo Otto!
Alles in Ordnung?"
Das Gesicht gehört einer virtuellen jungen
Frau, ihr helles Kostüm erinnert an eine
Kreuzung zwischen Stewardeß und Krankenschwester.
Der Hintergrund ist in einem tiefen Meerblau
gehalten. Manchmal ist so etwas wie Meeresrauschen
zu hören, aber nur sehr leise.
Otto ächzt, er läßt sich erschöpft
in seinen Lieblingssessel sinken.
"Du hast zwei Anrufe bekommen, außerdem hat sich Dr. März gemeldet,
er würde sich gerne nächste Woche mit Dir unterhalten" - die
Stimme wartet geduldig auf eine Antwort.
"Wer
hat angerufen?"
"Soll
ich es Dir vorspielen? Ich habe beide Anrufe
aufgezeichnet."
"Nein-nein,
nicht jetzt. Sage mir nur, wer es war."
"Der
eine Anruf kam von Deiner Tochter Marlies.
Die andere Person ist mir leider nicht bekannt
- es ist ein Mann, aber er hat keinen mir bekannten
Namen genannt."
Otto horcht auf. Inzwischen hat er sich auch
schon wieder etwas erholt. Schließlich
hält er noch immer seinen täglichen
einstündigen Marsch durch - quer über
das gesamte Gelände, die Einkaufsstraße
hoch, dann das Ufer entlang und hinter dem kleinen
Flußhafen wieder zurück zu dem Appartement-Block,
in dem er seit acht Jahren seine Wohnung hat.
"Spiele mir bitte den zweiten Anruf vor."
Zu spät merkt er, daß er schon wieder ‘bitte’ gesagt
hat, dabei redet er schließlich nur mit
einer Maschine, auch wenn diese ein so freundliches
und hübsches Gesicht hat. Aber im Laufe
der Jahre, in denen er sich zunehmend auf die
Dienste eben dieser Maschine verlassen hat, bröckelt
seine Abwehr immer mehr.
Eigentlich war es nur seine sprichwörtliche
Dickköpfigkeit, die ihn zu Anfang gleich
hat sagen lassen, daß diese komische VR-Hostess
ruhig zum Teufel gehen könne - er würde
sich nie auf solch eine kindische Sache einlassen!
Doch inzwischen hatte er sich schon so an ihre
unaufdringliche Präsenz gewöhnt, daß er
sie nicht mehr missen will - auch wenn er dies
offiziell niemandem gegenüber eingestanden
hätte.
Jetzt hatte er doch wirklich den Anfang verpaßt,
und die Stimme sagt auch ihm nichts. Langsam
bemerkt er aber, um was es hier geht. Der Anrufer
will Otto etwas verkaufen - und daran hat dieser
nicht das geringste Interesse.
"Löschen!" befiehlt
er knapp.
"Soll
ich diesen Anruf löschen?" vergewissert
sich das System.
"Ja,
der Kerl will mir was andrehen. Wenn er sich
noch einmal melden sollte, kannst Du seinen
Anruf gleich an die Beschwerde-Stelle weiterleiten...
sollen die sich mit ihm befassen!"
Irgendwie war diese ganze Elektronik ja doch
zu was nütze. In seinen jungen Jahren war
er Funker auf einem Obstfrachter gewesen. Damals
war das ‘high-tech’ gewesen, und
alle haben ihn bewundert, wenn er von seinen
Geräten und den Funksprüchen quer über
den Erdball geredet hat. Heutzutage kann das
im Prinzip jedes Kind per Internet. Aber einfach
dem Anrufbeantworter so eine Anweisung zu geben
und sicher zu sein, daß er sie auch haargenau
so ausführen würde... manchmal grenzte
das schon an Zauberei!
Immerhin würde das System die Stimmprobe
des unbekannten Anrufers bei jedem weiteren,
nicht vorab identifizierten Anruf, zum Vergleich
heranziehen. Und wehe, es paßte. Dann würde
sich eine virtuelle Stimme als Otto ausgeben,
und den Anrufer um sein Angebot bitten - und
ihn insgeheim gleichzeitig an einen von realen
Personen besetzten Counter weiterleiten. Dort
würde man überprüfen, ob sich
der Anrufer unlauterer Vertriebs-Methoden bedient
und ihm auf jeden Fall den ausdrücklichen
Wunsch Ottos, nicht weiter behelligt zu werden,
in juristisch akkurater Form kundtun.
Die berührungslose Meßtechnik teilt
dem System die Temperatur der Füße
und andere Parameter mit, welche es zu dem (richtigen)
Schluß gelangen lassen: "Otto, ich
glaube, Du hast Dir Deine Schuhe noch nicht ausgezogen.
Dabei hast Du gestern selber zugegeben, daß Du
Dich ohne sie hier in der Wohnung viel wohler
fühlst."
"Ja-ja, Du bist schlimmer als meine selige Mathilde... ich mach’ ja
schon."
Er wurde aber auch wirklich von Tag zu Tag vergeßlicher.
Zuerst hatte er sich noch einen Wecker stellen
müssen, der ihn an die regelmäßig
einzunehmenden Medikamente erinnern sollte. Darum
brauchte er sich heute nicht mehr sorgen. Das
System besaß alle medizinischen Informationen über
ihn, es erinnerte ihn an die Medikationen und
an die Arzttermine, es verwaltete sein Adreßbuch
und wählte die Nummern für ihn, es
kontrollierte seine Finanzen und ... ja, schließlich
hatte er sich doch dazu durchgerungen: Es tippte
sogar für ihn beim Lotto!
Zwar
hielt es sich weitgehend an seine Lieblingszahlen,
doch zwei Tips pro Woche entstammten dem systemeigenen
Zufallsgenerator. Und wie hat er letztlich
gestaunt, als er einen Vierer gewann - mit
einer Kombination aus der Maschine!
"Willst Du nicht den Anruf Deiner Tochter hören?"
"Ah...
hatte ich schon wieder vergessen. Ja, spiel
ab...."
Die
Stimme von Marlies füllt den Raum und
erwärmt sein Herz. Seine einzige Tochter
hat ihm schon zwei Enkelkinder geschenkt, deren
Fotos immer auf seinem Nachttisch stehen.
"...wir haben uns also überlegt, Dich am Freitag abzuholen. Am Sonntag
Abend oder Montag früh würde ich Dich dann wieder zurückbringen.
Was hältst Du davon? Die Kinder würden sich riesig freuen... also,
gib uns schnell Bescheid, ja?!"
Otto zögert etwas und befiehlt erst einmal
den aktuellen Wetterbericht und die Prognosen
der nächsten Tage auf den Schirm. Das freundliche
Gesicht grinst und ermutigt ihn.
Also ruft Otto seine Termine ab; oh ja, er muß den
Skat-Abend verschieben. Sicherheitshalber sagt
er es laut, so daß ihn das System später
noch mal daran erinnern kann (oder sollen wir
statt System nicht endlich ‘Michaela’ sagen?
- denn so hieß die erste große Liebe
Ottos, und entsprechend dieser Erinnerung hat
er sich ja auch das ‘Gesicht’ auf
seinem Bildschirm zusammenstellen lassen...).
Im Laufe des Nachmittags bekommt Otto aber noch
mehr zu tun.
Die vierte Schulklasse meldet sich wieder, denen
er vor einigen Wochen einen Vortrag über
seine Funker-Zeit gehalten hat. Begeistert hatten
sie seinen Erzählungen gelauscht, obwohl
sie sich gegenseitig nur auf dem Bildschirm,
gesehen haben. Aber vielleicht wirkt das bei
diesen Kindern ja sogar besonders authentisch?
Und jetzt fragen sie plötzlich nach der
Gefahr von Funkwellen... Als ob er darüber
auch nur das geringste wüßte.
Trotzdem gibt er ‘Michaela’ die Anweisung,
ihn Online zu schalten. Er muß wieder
grinsen, denn vor einigen Jahren hatte er sich
noch mit Händen und Füßen dagegen
gesträubt, solche komischen modernen Worte
auch nur wahrzunehmen... und inzwischen?! Auch
er war jetzt eine Art Weltbürger. Immerhin
war die Schulklasse aus Österreich, kein
Wunder also, daß sich die Kinder das Meer
besonders abenteuerlich ausmalten...
Der Lehrer hatte einen breiten steirischen Dialekt,
war sehr freundlich und äußerst aktiv,
Wissensschätze zu heben und seinen Schülern
zu vermitteln. In Otto hatte er einen solchen
Schatz gefunden - und gehoben. Für die Kinder
wirkte er wie ein gutmütiger Zeitreisender,
den man mit seinen Fragen löchern konnte.
Daß Otto über
Elektrosmog nichts weiß, ist kein Problem,
meint der Lehrer. Nach kurzer Recherche kontaktieren
die beiden einen ehemaligen Leutnant der Bundeswehr,
der Krebs hat und einen Prozeß führt,
weil er früher starken Radarstrahlungen
ausgesetzt war. Sein Gutachter hätte dafür
plädiert.
Man verabredet sich zu einem gemeinsamen Video-Chat.
Otto vertritt die Ansicht, daß das Radar
viel stärker ist als ein Funksender - und
daß dort die Antenne auch viel näher
am Menschen dran ist, als beim Schiff. Die Kinder
sind zwar etwas überfordert, nichts desto
weniger aber weiterhin sehr interessiert. Daß man
seine Erfahrungen schätzt, gibt ihm ein
gutes Gefühl – und nebenbei wird seine
Neugier immer wieder geweckt. Und so läßt
sich Otto am Abend von Michaela noch einige einschlägige
Artikel besorgen, in die er sich dann vertieft.
Doch erst einmal bekommt Otto Hunger. Auf Nachfrage
sagt ihm Michaela, was im Kühlschrank ist,
und was er sich daraus selbst schnell machen
könnte. Sie sagt aber auch was es in der
Küche gibt (die eigentlich Hausrestaurant
heißt) – und das klingt auf jeden
Fall verlockender.
Nun läßt er nach seinem Freund Manfred
suchen, doch der ist noch einkaufen. Otto hinterläßt
ihm eine Nachricht, und als er kurz darauf zurückgerufen
wird, verabreden sich beide und gehen zusammen
zum Essen.
Am Abend schaut sich Otto zuerst die von Michaela
beschafften Artikel zum Thema E-Smog an, dann
zappt er weltweit etwas im Internet-TV herum.
Heute sind dort ja wirklich alle Radio- und TV-Sender
zu finden - in exzellenter Qualität und
auf Wunsch sogar mit automatischen Übersetzungssystemen
gekoppelt, die allerdings manchmal den verrücktesten
Mist zusammenbrauen.
Otto
ist inzwischen Fan von Nepal-TV, die Musik
der Mönche berührt etwas in ihm,
das er bislang noch nicht genau identifizieren
konnte. Er wird doch auf seine alten Tage nicht
noch Buddhist werden...??
Otto wird langsam müde, er bestellt sich
den Film ‘Das Wirtshaus im Spessart’ mit
Lieselotte Pulver, in die er damals arg verknallt
war, und schläft mittendrin ein.
Michaela empfängt seine Daten, bemerkt den
Schlaf, stoppt den Fernseher und weckt ihn kurz
auf, bevor er die REM-Phase erreicht.
Otto zieht sich aus und geht zu Bett.
Michaela
wacht.