Ja
zu Reformen! Denn diese sind
in Syrien genauso wichtig wie anderswo. Zum Beispiel in Deutschland. Ich höre
schon: Das kann man doch gar nicht vergleichen. Eben! Und genauso wenig kann
man das hiesige mit dem dortigen ‚Demokratieverständnis’ vergleichen.
Wobei Deutschland stolzgeschwellt so tut, als hätte es sich dieses komplett
selbst erarbeitet. Ja, man war gewissermaßen beteiligt. Aber über
lange Jahrzehnte wohl eher dadurch, daß man den Weg zu einer funktionierenden
demokratischen Föderation mit viel, viel Blut eingefärbt hat. Und
nicht nur dem eigenen. Immerhin, nach 1945 wurde ein anderer Weg beschritten,
und ich bin der Letzte, der das seitdem Erreichte nicht achten und anerkennen
würde.
Doch jetzt wollen auch die Menschen
in den arabischen Ländern einen funktionierenden Parlamentarismus. Was
eigentlich gar so nicht schwer sein sollte, denn Parlamente gibt es ja schon.
Fast überall jedenfalls. Aber heißt das, daß auch das Umfeld
schon existiert und funktionieren würde, sind erst einmal die
fossilen Diktatoren verschwunden? Mal sehen, wie es in Tunesien weitergeht.
Und in Ägypten. Wo die Kollateralschäden bislang wahrlich gering
waren, auch wenn jeder einzelne Verletzte oder gar Tote einer zuviel ist.
Und nun Syrien. Wiege der Zivilisationen
und Vorbild ethnischer und konfessioneller Pluralität. Mit Damaskus, der
am längsten durchgehend bewohnten Stadt auf diesem Planten. Ich habe viele
Jahre gebraucht um zu verstehen, was es heißt einen solchen evolutionären
Joker im Blatt zu haben. Und um das wie zu begreifen, ihn dann auch
auf der Hand zu behalten. Über Jahrhunderte, Jahrtausende. Unter wieder
und wieder und wieder wechselnder Herrschaft, die auch oftmals von sehr weit
her kam. Wie haben es die levantinischen Händlerdynastien bloß geschafft,
letztlich jeden Besatzer zu überstehen? Nun, die Damaszener sagen beispielsweise: „Die
Hand, die ich nicht schlagen kann, küsse ich.“ Wobei die Motivation
zum Zuschlagen sowieso nicht besonders stark ausgeprägt ist – denn
tote, ja auch nur verarmte Kunden (und dazu zählt prinzipiell auch jeder
sogenannte ‚Feind’) sind als Handelspartner äußerst
kontraproduktiv.
Die Assads stammen jedoch aus
dem nördlichen Teil des Landes. Harte, karge Berglandschaften produzieren
auch ähnliche Menschen. Daß sie konfessionell und ethnisch einer
Minderheit angehören, haben sie dafür mit fast allen Syrern gemeinsam.
Denn selbst die Mehrheit der Sunniten ist nicht homogen, sondern besteht aus
Kurden, Tscherkessen, Turkmenen, Arabern und vielen, vielen ‚Mischformen’.
So etwas wie ‚reinrassige Araber’ gibt es wohl nur noch unter
den Beduinen, einer weiteren Minderheit, die sogar recht klein ist.
Und nun möchte ich wenigstens
einmal in Erinnerungen schwelgen: 1968 waren wir 61 Schüler in der 11.
Klasse der Ibn-Khaldoun-Oberschule in Damaskus. In der ersten Unterrichtsstunde ‚Islam’ dann
aber nur noch 40. Wir Muslime – denn weiter wurde nicht unterteilt – bedauerten
unsere Mitschüler, da wir wußten, daß sie am Sonntag nachmittag
ihre Stunden ‚Christentum’ absitzen mußten, während
wir anderen frei hatten. Zufällig erfuhr ich, daß tatsächlich
nur 20 von ihnen Christen waren – und als ich Nr. 21 fragte, was er denn
sei, war die Antwort: Jude. Interessant, aber schon nach zehn Minuten wieder
vergessen. Es war einfach nicht relevant. Denn hier wurde niemand ‚toleriert’.
Warst du da, dann warst du eben da und gehörtest dazu. Punkt. Mit (und
nicht trotz!) einem sunnitisch-irakischen Vater und einer protestantisch-deutschen
Mutter war auch ich ‚nur’ ein weiterer Damaszener. Ich war es bereits
mit gut fünf Jahren geworden, am ersten Tag unserer Ankunft aus Berlin,
wo wir zuvor gelebt hatten.
Auch der gegenwärtige Präsident
Baschar al-Assad ist in Damaskus aufgewachsen. Und um es einmal ganz klar zu
sagen: Ich habe in meiner Jugend vermutlich mehr Scheiße gebaut als er!
Mit 16 zerschredderte Baschar zwar ein paar Porsche. Aber man hörte nie
davon, daß dabei andere geschädigt wurden. Während sein älterer
Bruder Basil, der eigentliche Kronprinz der ‚Sozialistischen Erbmonarchie
Syrien’, wie ich sie gerne nenne, in einem anderen Land ob seines Sündenregisters
schon längst und endgültig hinter Gittern verschwunden wäre.
Irgendwann verschwand dafür Baschar: Er ging nach England, um Augenspezialist
zu werden. Wir hatten alle den Eindruck, daß er heilfroh darüber
war einen älteren Bruder zu haben – und ein eigenes Leben in relativer
Ferne führen zu können. In London lernte er auch Asma al-Atrash kennen, The
Rose in the Desert, wie Juliet Buck im Februar 2011 in einem überaus
empfehlenswerten Artikel auf VOGUE DAILY schrieb [http://www.vogue.com/vogue-daily/article/asma-al-assad-a-rose-in-the-desert/]
(inzwischen leider gelöscht, da wohl zu positiv...).
Doch als Basil 1994 tödlich
verunglückte, mußte Bashar nachrücken und wurde von seinem
Vater in ‚familiärer Staatsführung’ unterrichtet. Hafez
starb im Jahr 2000, Bashar wurde Präsident und kurz darauf Ehemann von
Asma. Eine Liebes-Ehe, die den Gerüchten zufolge gegen den Willen beider
Familien geschlossen wurde. Wer die orientalischen Gesellschaften wirklich
versteht, wird wissen, daß dies wahrlich revolutionär ist.
Auch wenn es kaum ein ‚Orient-Experte’ thematisiert hat. Leider.
Denn möglicherweise hätten dann einige europäischen Politiker
aufgemerkt und dem ‚Neuen’ verläßlichen Beistand signalisiert,
was für alle Beteiligten sicherlich sehr interessante Szenarien eröffnet
hätte.
Der Stammeskrieger wundert sich
derweil: Wieso hat Bashar seiner Inthronisierung keine ‚Nacht der langen
Messer’ folgen lassen, um sich vom Ballast der ‚Alten Garde’ seines
Vaters zu befreien? War er dafür schon zu lange in Europa gewesen? Oder
brauchte er diese vielleicht, um seiner Aufgabe überhaupt gerecht werden
zu können? Einmal abgesehen davon, daß ein Großteil der kleptokratischen
Kaste zur Familie gehört – und damit Tabu ist. Er begann also vorsichtig
zu operieren, einige der faulsten Äpfel wurden gepflückt (nicht,
daß hierzulande jemand viel davon mitbekommen hätte), und ein Damaszener
Frühling machte von sich reden. Da ich mich seit 1989 wieder in Berlin
aufhielt, habe ich diesen nicht miterlebt, aber irgend etwas lief schief, und
das ganze Bad wurde ausgeschüttet, mit
allem, was darin herumschwamm .
Wer hatte da Angst bekommen? Und
vor wem? Gab es denn überhaupt eine konstruktive Opposition in
Syrien? Die destruktive Variante hatten wir schon Anfang der 1980er
zu genüge kennengelernt, als sunnitische Militante mit Sprengstoff, Entführungen
und Mordanschlägen das ‚Ende des gottlosen alawitischen Regimes’ herbeibomben
wollten. Der allererste Sprengsatz, der den Moslembrüdern zugeschrieben
wurde, explodierte direkt neben unserem familiären Ingenieurbüro.
Er war relativ klein, und im 3. Stock hatten wir das Glück einer gewissen
Distanz. Trotzdem riß es uns alle Fensterrahmen heraus. Aber was konnten
wir dafür, daß lange nach uns die Leitung der regierenden Baath-Partei
ins Nebengebäude eingezogen war? Bald darauf explodierte ein wesentlich
größeres Kaliber direkt unter dem Kabinettsaal, kaum 150 m entfernt,
und wir mußten schon wieder alle Fenster neu verglasen lassen. Der Ministerrat
hatte unglaubliches Glück. Nur wenige Minuten bevor der Saalboden einmal
kurz gegen die Decke klatschte, war der Rat geschlossen zum nahen Volksparlament
gefahren, um die tags zuvor neugewählten Abgeordneten zu beglückwünschen – und überlebte.
Eine der ersten Autobomben mit über
200 Toten, nur wenige Wochen später, verpaßte ich gerade mal um
zehn Minuten. Ich hätte sonst wohl direkt hinter dem Sprengstoffwagen
geparkt, während mein Freund in dem zum Ziel auserkorenen Wehrkreisamt
einen Termin hatte. Ein eindrucksvoller Abgang mit Pink Floyd aus dem Autokassettenrekorder – ohne
daß von mir genügend übriggeblieben wäre, was meine Familie
hätte begraben können. Wie also sollte ich nicht auf der
Seite von Präsident Hafez al-Assad stehen, als er im Februar 1982 in Hama,
jawohl, durch ein Massaker, ein für alle Mal Schluß mit dem islamischen
Extremismus in Syrien machte?!
Sind es wirklich nur friedliche
Demonstranten in Deraa? Und sind es tatsächlich nur die sogenannten Sicherheitskräfte,
die um sich schießen? Wer schiebt hier welche Eisen ins Feuer, will alte
Rechnungen begleichen oder neue aufmachen? Die Informationen sind so widersprüchlich,
daß ich mir im Moment keinerlei Urteil erlauben kann. Es ist bedrückend
und traurig, was in Syrien passiert, denn genau wie ich betrachteten viele
Menschen unser junges, modernes und akademisches Präsidenten-Ehepaar als
Segen für das Land.
Lieber Baschar, Dein Vater hat
Syrien in keine Kriege im Stile Saddams geführt und die meisten Provokationen
sehr geduldig ausgesessen. Dafür sollten alle Bürger dankbar sein.
Und während beispielsweise Israel seinen Schekel mehrfach abwerten mußte,
blieb die syrische Wirtschaft relativ stabil. Die Menschen im Land wissen dies,
wollen aber auch einen oder sogar ein paar Schritte weiter kommen. Die Notstandgesetze
wurden aufgehoben. Sehr gut, aber nun sollten auch die ‚inneren’ revidiert
werden. Und die Bäume im familiären Garten könnten ebenfalls
einen ordentlichen Schnitt vertragen. Apropos: Was machen die eigentlich
mit dem ganzen Geld?! Eine modernisierte Verfassung mit Mehrparteien-Wahlrecht
ist zwar etwas teurer als eine Diktatur, aber Syrien ist ein reiches Land mit
arbeitsamen Menschen. Und die Einsparungen im Sicherheitsapparat wären
auch signifikant.
Deine Herausforderer scheinen
ihr Streben nach dem Präsidentensessel als ausreichende Kompetenz dafür
zu betrachten, diesen auch zu verdienen. Du solltest aber keine Angst haben
und ihnen die Chance geben sich zu bewähren. Du hast nicht die Urangst,
die Erfahrung des Hungers in der Jugend, wie so viele der anderen Staatsführer
arabischer Länder. Und du bist trotz deines offiziellen Rangs auch kein
Militär, so wie fast alle unter ihnen. Denke an deinen hippokratischen
Eid, den du VOR deiner Vereidigung als Präsident geleistet hast! Dein
Werkzeug ist das Skalpell und nicht das Maschinengewehr. Und in ein paar Jahren?
Nun, auch das Leben eines elder statesman kann sehr angenehm sein – und
Deine Familie wirst Du auch als Augenarzt jederzeit und überall ernähren
können. Ich würde dir meine Augen jedenfalls anvertrauen.
Achmed A. W. Khammas