Im Berliner Kinderzoo
Marion ist erst drei Jahre alt, aber wenn sie im Zoo zum erstenmal dem Löwen Aug' in Auge gegenübersteht, ist sie weder überrascht noch ratlos. Sie mustert ihn einige Sekunden und stellt dann mit Entschlossenheit fest: "Löwe!" Kaum irgendein wildes Tier, das sie nicht erkennt und durch Namensnennung als Erscheinung gleichsam zu bannen weiß. Oh, sie hat daheim ihre Klassiker gründlich studiert: die Bilderbücher.
Aber dann beginnt sie zu fragen. Zwei Fragen bei jedem Tier. Immer dieselben, unermüdlich. Grundfragen auf dem Wege zur kritischen Welterkenntnis. Ob Löwe, Eisbär, Nilpferd oder Reh - die erste Frage lautet: "Beißt es?" Und die zweite: "Kann man es streicheln?" Mit den Antworten der Erwachsenen ist alles entschieden. Die Welt ist eingeteilte in Gut und Böse, in Freund und Feind, in Vertrauen und Vorsicht Der Löwe beißt, man kann ihn nicht streicheln - das Reh beißt nicht, man kann es streicheln...
Weil man aber, wenn man drei oder sechs oder zwölf Jahre alt ist, soviel Lebendiges streicheln möchte, ist man sehr froh, daß es t Beginn der diesjährigen Sommerferien wieder einen Tierkinder-Zoo gibt. Auf 600 qm sind mehr als 140 Tiere untergebracht, die von so milder Gemütsart sind, daß man sie unbedenklich anfassen, einige auch auf den Arm nehmen und mit den Händen liebkosen kann. Meerschweinchen, Ziegen, junge Schweinsaffen, Papageien, kleine Füchse, Eichhörnchen, Enten und die beiden grobschlächtigen, ruppigen Bärenkinder Grete und Schnullerisch.
Tierkinder - Menschenkinder... welch eine anmutige, rührende Begegnung von Unschuld zu Unschuld! Hände, die zum erstenmal im Leben ein warmes atmendes Tierfell berühren. Finger, die am Panzer einer Schildkröte liebevoll kille-kille machen und sich vor Verwunderung nicht zu lassen wissen, daß die Schildkröte ob dieser Kitzelei nicht in schallendes Gelächter ausbrechen muß. Münder, die siech ungelenk, aber freundlich und wohlerzogen vorstellen: "Du, Eißhörnßen. iß heiße Achmed, mein Vati ist Türke und iß wohne Berlin, Dußburger Traße, dreißehn Nummer."
Die beiden kleinen Bären klettern tollpatschig-geschickt auf den Baum in ihrem Gehege. Die Papageien ertragen mit philosophischer Geduld, daß man sie andauernd am Schnabel zupft. Ihrem Ruf, die Komiker des Tierreichs zu sein, bleiben die Äffchen nicht einen Augenblick etwas schuldig. Vor zaghaft fütternden Kinderhänden drängen sich die Ziegen zu zierlichen Gruppen zusammen... Tierkinderzoo!
Und das Geplapper, das Staunen, das Lachen:
"Kurtchen, gib der Ziege doch 'ne Bananenschale!" - "Ziege will nix mehr, hat Nese voll." - "Watten nu, wenn der Bär nu runterfällt?" - "Der fällt nich runter, den seine Balangse is’n Knopp schärfer als deine" - "Achmed will Ssildkröte ham..." - "Die muß hierbleiben, Achmed, die wohnt hier." - "Woher weiß'ten das, daß der Papagei Nora heißt?" - "Mann, bist du weit zurück - Papageien heißen doch alle Nora." - "Naja, mit'm Vornamen..." - "Achmed will Ssildkröte ham!" - "Mutti, was machen denn die Affen da?" - "Die spielen genau so miteinander, wie du immer mit Klaus spielst." - "Können die auch Fußball?" - "Achmed will Ssildkröte ham!" - "Ach, is der süß!" - "Is doch bloßen Esel!" - ,Ja, aber'n süßer Esel." - "Achmed will Ssildkröte ham!"
In einer Ecke auf Bänken sitzen zwei würdevolle Vierzehnjährige, lächeln herablassend über den ungestümen Jubel der Jüngeren und übertragen, was sie gesehen haben, in hehre geistige Gebiete. Sie dichten. Sie bedichten die Tiere des Zoos. Und das hört sich so an: "Der steinerne Ichithyosaurier wird leider immer trauriger, und der Löwe Sultan, der ist schuld dran..."
Die Fortsetzung des Poems will ihnen nicht gelingen. Kurz entschlossen brechen sie nach einigem Palaver ab und beginnen hoffnungsfroh ein neues - "Das Nilpferdkind Bulette speist immer noch ohne Serviette ... und macht des Nachts noch oft ins Bette..."
Wie zwei vergnügte Gnomen huschen die Affen durch ihren Käfig, ein wenig vergnatzt schaut die junge Füchsin drein - und immer wieder ertönt von Zeit zu Zeit vom Tümpelgehege her der halb sehnsüchtige, , halb gebieterische Ruf des tierverliebten Zweijährigen: "Achmed will Ssildkröte ham!"
Ekkehart Reinke
Bildunterschrift: Was Kinder lieben, das wollen sie auch haben. Achmed geht es um die Schildkröte. Er möchte sie am liebsten mit nach Hause nehmen und kann gar nicht verstehen, warum das nicht geht.
Anm.: In diese Reportage hatte sich ein Fehler eingeschlichen, denn mein Vater ist Araber und nicht Türke - was ich laut Aussage meiner Betreuerin Frau Friedrich, die im Bild oben links zu sehen ist, allerdings richtig gesagt hatte. Daneben steht übrigens ihre Enkelin und meine damalige Freundin Brigitte... sag' mal, gibt's dich eigentlich noch? Hallo!
Erschienen in: B.Z. Nr. 192 - 78. Jahr / Berlin, Freitag, 20. August 1954 (Mittelseiten)